Kommt 1993 die Fusion von AL und Bündnis?

■ Im nächsten Jahr könnte der Zusammenschluß »Gestalt annehmen«, meint Uwe Lehmann vom Bündnis 90/ »Eine Fusion per Satzungsänderung reicht uns aber nicht«/ Das Abgeordnetenhaus ist immer noch ein »Westberliner Kessel«

Zu den Querelen, die in den letzten Wochen zwischen der AL und dem Berliner Bündnis 90 aufgebrochen waren, sprach die taz mit Uwe Lehmann. Er ist Mitglied im Geschäftsführenden Ausschuß von Bündnis 90 und Ko-Fraktionsvorsitzender der gemeinsamen Fraktion von Bündnis 90 und AL im Abgeordnetenhaus.

taz: Herr Lehmann, noch vor einigen Wochen hat das Bündnis 90 in einem Brief an die AL geschrieben: »Wir wollen, daß aus Bündnis 90 und Grünen ein gemeinsames Projekt wird.« Gilt das noch?

Uwe Lehmann: Dieser Brief wurde von mir entworfen, der Satz stammt von mir und jenseits aller Mißverständnisse stehe ich nach wie vor zu diesem Satz.

Wirklich? In einem Beitrag für die Bündnis-Mitgliederzeitung haben Sie kürzlich geschrieben, die gemeinsame Fraktion im Abgeordnetenhaus nehme »eine Zukunft vorweg, von der bis heute nicht klar ist, ob sie überhaupt kommt«.

Wegen einiger weniger Sätze hat dieses Papier in der AL helle Empörung ausgelöst. Das hat mich überrascht. Denn die Aussage, daß wir weiter zu dem gemeinsamen Projekt stehen, gilt. Das Problem ist nur, daß wir nie über die Konkretion dieses Ziels geredet haben.

Welche konkreten Vorbedingungen würden Sie stellen?

Von Fusion haben wir bisher nie geredet. Fusion steht in meinen Augen für den schnellstmöglichen Zusammenschluß zweier Organisationen zu einer Partei, möglichst bis zum Jahresende 1992. Wir dagegen haben immer für einen Prozeß des Zusammenwachsens plädiert. Wir wollen zunächst eine programmatische Debatte. Eine Fusion per Satzungsänderung reicht uns nicht.

Sollen sich beide Organisationen auflösen und anschließend die gemeinsame Partei gründen?

Das wäre der Idealfall. In Reinform wird es so nicht machbar sein. Es kann Probleme mit den Finanzregelungen geben, bis hin zum Nachweis der Wahlfähigkeit durch eine neue Unterschriftensammlung.

Soll sich die AL zunächst von ihren Kreuzberger Linken trennen?

Das wurde mir kürzlich in den Mund gelegt. So habe ich es aber nicht gemeint. Zunächst muß jetzt überprüft werden, ob die Politik der AL nahtlos für die 90er Jahre übernommen werden kann, wo nicht, wo andererseits die Vorstellungen des Bündnis 90 nicht greifen. Im Anschluß daran muß jeder selbst überprüfen, ob er Mitglied sein will oder nicht. Ich grenze niemanden aus. Aber zur Zeit gibt es ohnehin schon einen Absetzprozeß von der AL. Beim Bündnis 90 werden neue Leute eintreten, es werden sicherlich auch weitere Westberliner dazukommen. Außerdem wird sich die PDS auflösen. Einige Mitglieder werden versuchen, bei uns eine politische Heimat zu finden. Auch der linke Rand der Ost-SPD ist nicht gefestigt.

Wie sollen in einer Programmdebatte die 300 Berliner Bündnis-Mitglieder von Bündnis 90 gegen 3.000 AL-Mitglieder etwas ausrichten?

Unsere Mitglieder versuchen jetzt, dem Bündnis ein Gesicht zu geben. Für mich ist absolut unüberschaubar, wie der Stand am Jahresende sein wird. Es kann durchaus sein, daß diejenigen in der AL recht behalten, die sagen: »Ihr paar Hanseln habt gar nicht die Kraft, euch sowohl privat als auch politisch im vereinigten Deutschland einzuleben. Kommt doch besser gleich alle einzeln.« Aber mein Anspruch ist, den anderen Weg zu versuchen.

Welche Vorstellungen wollen Sie denn in die Debatte mit den Grünen einbringen? Wo gibt es Differenzen zur AL?

Wir haben bei unserer Gründung einen Grundkonsens verabschiedet. Dessen programmatische Unterfütterung steht noch aus. Das ist genau das, was ich auch immer beklage. Man kann nicht meckern über die Grünen, wenn man nicht selbst Positionen hat, die man als Vergleich anlegen kann. Und eigentlich waren es Westgrüne wie Ralf Fücks, die mir den Floh ins Ohr gesetzt haben. Auch Fücks verlangt, daß es beim Zusammengehen mit den Bürgerbewegungen zu einer programmatischen Durchlüftung der Grünen kommen muß. Was ich in der AL noch nicht ausreichend gehört habe, ist eine kritische Aufarbeitung der rot-grünen Koalition und ihres Scheiterns.

Bis wann spätestens sollte der Zusammenschluß erfolgen?

Das Bündnis 90 ist erst im Oktober 1991 als regelrechte Organisation gegründet worden, viel zu spät. Deshalb bleibt uns nicht viel Zeit. Wenn man überhaupt einen politischen Anspruch hat, dann muß vor dem nächsten Wahltermin — und zwar deutlich vor Beginn des Wahlkampfs— der Laden stehen.

Also 1995?

Ich vermute, daß es in Berlin schon im Jahr 1993 Neuwahlen geben wird. Das heißt, daß wir in Berlin dieselbe Devise ausgeben können wie auf Bundesebene: 1992 ist für das Bündnis 90 das Jahr der Selbstfindung und der Positionierung gegenüber den Grünen. Zum Jahresende muß dann klar sein, wie es weitergeht. Ich bin gar nicht so pessimistisch. Wenn es gut läuft, kann dabei herauskommen, daß 1993 ein Vereinigungsprozeß Gestalt annimmt.

Die Stimmung zwischen AL und Bündnis 90 scheint diesen Prozeß zur Zeit nicht zu begünstigen. Selbst in Ihrer gemeinsamen Fraktion ist im Dezember der Konflikt offen aufgebrochen. Die AL-Abgeordneten meinen, dieser Streit sei ein »reinigendes Gewitter« gewesen...

Das hoffe ich, daß es bei diesem reinigenden Gewitter bleibt. Ich betrachte diesen Fall als eine gewisse Entgleisung bei dem Versuch, mit unseren Ost-West-Unterschieden produktiv umzugehen. Bis dahin war uns das besser gelungen. Aber offenbar haben wir in der Vergangenheit nicht alles immer offen ausgesprochen. Vor allem haben wir nie darüber gesprochen, wie denn die gemeinsame Perspektive außerhalb der Fraktion aussieht. Eins ist doch völlig klar: Wenn nicht 1993 auch außerhalb der Fraktion eine solche Perspektive aufgezeigt wird, dann wird das Folgen für die Fraktion haben.

Daß diese Fusion von Ihnen in Frage gestellt wurde, weckte bei den AL-Mitarbeitern die Befürchtung, in der gemeinsamen Fraktion für die Profilierung von Abgeordneten einer Konkurrenzorganisation gearbeitet zu haben...

Das kann ich schon verstehen. Meine These, daß die AL in der Fraktion die dominierende Rolle hat, ist leider mißverstanden worden. Das war kein Vorwurf an die Adresse der AL, sondern die Mahnung an das Bündnis 90, daß diese Dominanz unvermeidlich ist, wenn das Bündnis nicht selbst ein Gesicht entwickelt und Arbeit investiert.

In der Fraktion in der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung galten Sie als der aktivste Verordnete. Im Abgeordnetenhaus hört man von Ihnen nur sehr wenig. Woran liegt das?

Ich habe nicht geahnt, daß der Unterschied zwischen Stadtverordnetenversammlung und Abgeordnetenhaus so groß ist. Ich will die Stadtverordnetenversammlung und den Umgang dort nicht glorifizieren, aber eins war völlig anders: Es war für uns alle eine neue Einrichtung, wir waren alle auf demselben Ausgangsstand. Und es herrschte ein anderes Gesprächsklima. Das Abgeordnetenhaus dagegen ist ein eingespielter, gewachsener Laden, jeder kennt jeden. Dieser Kessel West-Berlin ist immer noch zu spüren. Da habe ich meinen Platz schlichtweg nicht gefunden und hatte in der Tat eine ziemlich starke Lähmungsphase.

Ihr Westberliner Fraktionskollege Wolfgang Wieland meint, Sie seien vor einem Jahr der vehementeste Befürworter der gemeinsamen Fraktion gewesen. Heute seien Sie derjenige, der dort am meisten gescheitert sei.

Was mir nicht gelungen ist, ist das Zurechtfinden in diesem neuen Apparat und dieser Westberliner Szenerie, auch mit der Rolle eines Fraktionsvorsitzenden als öffentliche Person. Von AL-Fraktionskollegen wird mir gelegentlich vorgeworfen, ich käme »nicht genug in den Medien vor«. Anfangs wollte ich diesen Umgang mit den Medien lernen, wollte alles auf einmal lernen. Das habe ich aufgegeben. Ich kann nicht innerhalb von zwei Jahren ein völlig neuer Mensch werden, mit einem neuen Privatleben, einem neuen Rechtssystem und dann gleichzeitig noch Politik machen und auf diesem Weg das Rechts- und Politiksystem gestalten. Hinzu kommt dieser ganze Kulturunterschied: In gewisser Weise bin ich »DDR-geschädigt« und eher ein Kollektivwesen. Die AL-Abgeordneten hingegen arbeiten eher individualistisch. Außerdem habe ich Familie und Kinder. Insofern ist es richtig, daß ich einige Dinge als persönliche Überforderungen empfunden habe. Meine Vermutung ist, daß sich das im Laufe der Zeit verwächst. Irgendwann werden die DDR-Bürger ihre Sprache wiederfinden. Interview: Hans-Martin Tillack