»Ergetzung von Ohr und Seel«

■ Über einen genialen Poeten und eine bibliophile Kostbarkeit mit ausnahmsweise wunderbaren Holzschnitten

Seine Biographie zu referieren lohnt kaum: Zwar ist er wahrscheinlich wirklich 1924 geboren — keineswegs aber im österreichischen St. Achatz am Walde. Denn eine Ortschaft dieses Namens existiert nicht. Auch Bibliographen werden mit dem dichtenden Austriaken Probleme haben: Jahrelang erschien, mit schöner Regelmäßigkeit, in den Verlagsprospekten des Hauses Suhrkamp eine Ankündigung von H.C.Artmannsens Märchen. Nur das Buch gibt es heut noch nicht. Oder hat sich Artmann, den alle Welt vertraulich den Hatzee nennt, am Ende entschlossen, die Verwirrungsstrategie zu wechseln, den Band also doch noch zu schreiben?

Er hat genug Bücher gemacht; man hat nie genug von ihnen. Wahnwitzig-hirnrissige Kasperl-Dramen verfaßte er; ein Band des Titels Med ana schwoazzn Tintn versammelte Dialekt-Gedichte, die unerreicht geblieben sind; Schnee auf einem heißen Brotwecken oder Die Erinnerung an den gestrigen Tag war ein teilweise autobiographisch-tagebuchartiges Opus inclusive einer Hommage an Tom & Jerry; daß Kater Karlo stets Harr harr lacht und — für eine Katze besonders lächerlich — stets unrasiert ist, hat Artmann uns gelehrt und vieles andere. In Grünverschlossene Botschaft. 99 Träume bewies er, daß auch das ernsthaft Poetische ihm keine Mühe macht. Ein Universalkönner mit Schlagseite zum Ulk, zumal zum Anachronistischen und zu Skurrilitäten des Ausdrucks. Er lebt seit Jahrzehnten zwischen Berlin, Wien, Malmö und einem (eventuell auch nur halluzinierten) Anwesen im Englischen. Neun Sprachen spricht er, davon laut eigener Auskunft »drei erfundene«. Er war einer der Gründer von dem, was man retrospektiv die »Wiener Schule« nennt. Rühm und Wiener waren Kumpane des damaligen Aufbruchs. Er hat ein Manifest geschrieben, in dem er seine eigenwilligen und klugen Gedanken zu Lyrik u.a. zusammenfaßte. Auf einem Empfang des österreichischen Literaturverbands während der Buchmesse 1990 sah ich ihn zum ersten Mal in natura: Er stand irgendwo am Rand, erwiderte huldvoll die demütigen Grüße der Passanten, trank genüßlich Weißwein, war ganz in feinsten Tweed gehüllt und sah jeden, der ihn erblickte, streng durch ein Monokel an.

Als die Redaktion des ZDF-Kulturmagazins Aspekte ihn anläßlich irgendeiner früheren Buchmesse bat, für die Kamera etwas zu lesen, bestand er darauf, das durch das zweiflügelige Fensterchen einer Art Hexenhaus zu tun. Sekundenlang blieb nach der Anmoderation das Fensterchen geschlossen, das Häuschen stellte seine ganze einfältige Schönheit aus—, dann flogen krachend die Fensterflügel auf, und der Hatzee begann ganz friedlich zu lesen.

Natürlich ranken sich wilde Anekdoten um diesen Groß-Berserker der deutschsprachigen Literatur. Er habe einstmals, erzählt ein Freund des Meisters, in größter Geldnot für eine einschlägige Zeitschrift in einem ausgetrockenen Flußbett Motorradln getestet und daran derart Vergnügen gefunden, daß er sich im Geschwindigkeits- und Lärmrausch den Steiß einschlug. Eine andere Begebenheit spielte nach der Legende beim Münsteraner Lyriker-Treffen, das alle zwei Jahre stattfand. Gerhard Rühm saß auf der »Bühne« im Audimax der Universität. Kuriere flehten ihn immer und immer wieder an: »Noch ein Gedicht bitte, Herr Rühm! Unsere Leute sind schon unterwegs, den Hatzee suchen!« Artmann mußte nach dem »Wiener Gruppe«-Kollegen Rühm dransein mit Lesen — die ganze sorgfältig getüftelte Dramaturgie des Abends wäre sonst im Eimer gewesen. Mitarbeiter des »Lyriker-Treffens« zogen, immer mehr verzweifelnd, konzentrische Kreise um den Veranstaltungsort. Irgendwo mußte der alte Saufaus doch hocken. Man fand ihn schließlich. Er pflegte damals, wahrscheinlich um den mächtigen Körper zu verwirren und zu täuschen, kräftige Alkoholica und Beruhigungsmittel abwechselnd in sich zu schmeißen. Artmann ging nach kurzem Aufmucken schwankend mit. Er bestand darauf, einen Pracht-Auftritt durch den amphitheaterartigen Zuschauerraum des Audimax zu haben. Man öffnete die Tür — Rühm schwitzte inzwischen schon auf Reservepoemen herum —, Artmann trat ein, navigierte sich mühsam und doch gravitätisch-würdevoll die Stufen hinunter. In der Mitte des Saales rief der Meister donnernd Habt's a Valium? — Die anschließende Lesung soll wunderbar und frei von alkoholischen Beeinträchtigungen gewesen sein. Klaus Nothnagel