DEBATTE
: Die EG: Kein Vorbild für uns

■ In Westeuropa geht die Epoche der nationalen Souveränitäten zu Ende — die ehemaligen Sowjetrepubliken erkranken an der Souveränität

Wer wird in einigen Jahren in Europa die Musik bestellen? Ist Deutschland nicht heute schon absolut führend in der Wirtschaft der EG? Werden nicht die deutschen Industriestandards (DIN) zum Maß für alle anderen? Wird nicht nach dem Vorbild des Bundesbanksystems die absolut unabhängige europäische Zentralbank geschaffen, und nimmt nicht der Ecu die Grundzüge der deutschen Mark an? Das Murren wegen „dieser unverbesserlichen Deutschen“ ist nichts anderes als die notgedrungene Anerkennung der führenden Rolle Bonns in den zukünftigen europäischen Strukturen. Außerdem haben London und Paris ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten, halten sich an den militärischen Attributen fest, die den Status und die Stärke des Staates symbolisieren. Obwohl diese Komponente der Sicherheit allmählich ihre Bedeutung verliert und anderen — wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und psychologischen — Platz macht. Auch in diesem Wettstreit hat Bonn die Nase vorn.

Wie steht Rußland oder jene Allianz, die sich auf einem Sechstel des Festlandes bildet, zur Stärkung Deutschlands? Ich denke, mit einem Gefühl der Befriedigung und gewisser Berechnung auf die zukünftige Rolle Deutschlands in der Gemeinschaft, die sich neben den USA und der immer stärker werdenden asiatisch-pazifischen Region zu einer dritten Kraft in der Welt entwickelt. Es ist im Interesse jedes Gebildes, das sich anstelle der UdSSR konstituiert, daß die europäische Integration so schnell und erfolgreich wie möglich verläuft, damit das vereinte Europa seinen Nachbarn mehr Aufmerksamkeit schenken kann, die sich so schwer vom sozialistischen Experiment erholen.

Für die zukünftige Gemeinschaft Eurasiens führt jedoch im Unterschied zu ihren Ex-Verbündeten kein Weg in die EG. Mitte Dezember schloß die EG mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei Verträge über eine assoziierte Mitgliedschaft ab, was die Zollschranken auf dem Weg der Waren aus diesen Ländern in die EG öffnet. In weiterer Perspektive ist eine vollberechtigte Mitgliedschaft vorgesehen, doch bislang erhielten Warschau, Prag und Budapest nur provisorische Passierscheine. Wie schwer die Assoziierung der früheren Satelliten Moskaus auch sein mag, ihr Status hilft, die Situation unter Kontrolle zu halten und eine Wiederholung des jugoslawischen Dramas zu verhindern.

Für die EG ist die Aufnahme neuer Mitglieder nicht ganz einfach, es gibt Gegner ihrer Erweiterung, die auf der Vertiefung der Kooperation bestehen. Im vergangenen Jahr erlitten sie allerdings eine Niederlage — die EG schloß auch Vereinbarungen mit den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (Österreich, Schweiz, Schweden, Finnland, Island und Norwegen) ab, die ebenfalls freien Zugang zum EG- Markt bekommen. Somit widerlegt die Gemeinschaft die Meinung, daß auf dem Kontinent eine uneinnehmbare Festung entsteht. Das ist nicht real, weil, wie die Erfahrungen zeigen, der Protektionismus dort stark ist, wo die Wirtschaft schwach ist. Die EG hängt von den Weltmärkten — Rohstoffe, Energie — ab. Eine nicht unbedeutende Rolle spielen auch Sicherheitsüberlegungen.

Einheitliche Währung... Einheitliche Politik... Einheitliche Normen... Einheitlicher Rechts-, Wirtschafts- und ökologischer Raum... Was hat das alles mit uns zu tun? Der Satte versteht den Hungrigen nicht, wir haben ganz andere Probleme — was gehen uns europäische Zweifel und Qualen an, wenn die Regale leer sind, es in den Häusern kalt ist, Verwirrung in den Köpfen und Verbitterung in den Seelen herrscht. So sprechen die einen.

Andere, der Präsident der Ukraine, Leonid Krawtschuk, beispielsweise, halten es beinahe für guten Ton, die Erfahrungen der EG als Beispiel für die früheren Sowjetrepubliken anzusprechen: auf einem riesigen Territorium gäbe es schon einen einheitlichen Wirtschafts-, Rechts- und sonstigen Raum, eine einheitliche Währung, auch wenn das nur der „Holzrubel“ ist. Ein derartiger Vergleich ist meiner Meinung nach allerdings nicht korrekt, und das Beispiel, wie verlockend es auch scheint, unpassend. Vor allem deshalb, weil das Niveau der Wirtschaftsentwicklung ein ganz anderes ist, es keine Marktmechanismen gibt, die technologische und die politische Kultur sehr niedrig, die demokratischen Institutionen unterentwickelt sind. Und letztlich sind die Ziele, die die neue Vereinigung verfolgt, bislang unklar.

Die Europäer bewegen sich in ihrer Entwicklung zu einer Art Megastaat vorwärts, wir jedoch zurück, zur Epoche der Nationalstaaten. In Europa hat man begriffen, daß sich zu Ende des Jahrhunderts die Souveränität praktisch überlebt hat. Nationalstaaten sind viel zu klein, um mit den globalen Problemen fertig zu werden. „Wir können nur gemeinsam souverän sein“, sagte der CDU- Generalsekretär Volker Rühe, den Standpunkt Deutschlands reflektierend. Die aktivsten Anhänger einer einheitlichen europäischen Währung sind übrigens die Deutschen, die Besitzer der auf den heutigen Tag stabilsten Währung. Warum sollten sie sich also beeilen? Aber sie beeilen sich, ihre Souveränität mit anderen Staaten zu teilen. Wie die Gegner der Brüsseler Bürokraten in vielen europäischen Hauptstädten auch schimpfen, gerade die Beamten bestimmen schon länger die Politik, bespielsweise im Agrarsektor. Die Welt wird durchaus nicht ärmer, wenn weitere Zeichen der nationalen Staatlichkeit verschwinden, meint man in Europa. Und die Streits um die Vertiefung der Integration sind im Grunde Streits um den Grad der Selbstbegrenzung der Souveränität.

Natürlich sind in der EG Stimmungen gegen eine übermäßige Stärkung des „Zentrums“ — Brüssel — stark, wo sich die Eurobürokraten verschanzt haben, die ihre „Vogelsprache“ sprechen und, wie man meint, die Verbindung zum Volk verloren haben. Ein Kreml der EG. Keiner zweifelt an der Kompetenz der Beamten, aber man fürchtet, daß sie sich zu viel Macht in der EG nehmen. Aus den Verträgen von Maastricht wurde auf Beharren Londons beispielsweise sogar das Wort „föderativ“ herausgenommen, weil es an „Zentralismus“ erinnert. Statt dessen tauchte der strukturlose Begriff „engeres Bündnis“ auf. Alle waren jedoch damit einverstanden, daß sich die Gemeinschaft auch in Zukunft von unten beginnend aufbauen soll, um die demokratischen Grundlagen der EG zu stärken.

Manchmal scheint es, daß jener geopolitische Raum, den gestern die UdSSR füllte, scheinbar außerhalb von Raum und Zeit existiert, vergessend, welches Jahrtausend wir haben. Der Westen muß sich offensichtlich damit abfinden, daß die ehemaligen Sowjetrepubliken an der Seuche der Souveränität erkranken, bevor sie begreifen, daß man sich davon heilen muß. Dmitri Pogorshelski

Der Autor ist Bonn-Korrespondent der Moskauer Wochenzeitschrift 'Neue Zeit‘. Den gekürzten Artikel entnahmen wir dem Dezemberheft52 der deutschsprachigen Ausgabe.