Bürgerkrieg oder serbische Aggression?

■ Der französische Philosoph Alain Finkielkraut im Gespräch mit der kroatischen Zeitschrift 'Globus‘/ „Die heutigen Metternichs sind dümmer als Metternich“

Frage: Spielt Ihre jüdische Herkunft eine Rolle bei dem Entschluß, sich in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen auf die Seite Kroatiens zu stellen?

Alain Finkielkraut: Die Juden sind nicht die einzigen, die Erinnerungen bewahrt haben. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs haben universale Bedeutung: Verbrechen gegen die Menschlichkeit trafen alle, nicht nur Juden. Die Juden wurden am meisten und am schwersten getroffen. Alle müssen die Erinnerung an jene Verbrechen bewahren, die Juden vielleicht am meisten, aber nicht als die einzigen. Die Juden sind Hüter der Hüter. Erinnerungen hüten bedeutet gleichzeitig, auf der Hut vor Manipulationen zu sein. Der Gedanke, daß heute Milosevićs Serbien Kroaten tötet und ihr Land verwüstet, um die Opfer von gestern zu rächen, ruft bei mir den allergrößten Widerstand hervor. Das trifft mich als Juden. Die Leiden der Kroaten treffen mich um so mehr, als ihnen das Recht auf Wahrheit verwehrt wird. Die Leiden werden dadurch noch größer, daß sie von der Lüge begleitet werden. Die serbische Propaganda projiziert die gegenwärtige Epoche und die Epoche des Zweiten Weltkriegs und stellt eine Mischung her, indem sie alle Kroaten — die, die kämpfen, und die, die als Zivile sterben — zu Ustascha erklärt. Ich kann darüber nicht hinweggehen, ich kann kein ohnmächtiger und gleichgültiger Zeuge dieses Skandals sein. Insbesondere deshalb nicht, weil ich ein Jude bin.

Gibt es nicht eine Skepsis der Philosophen in Ihrem Land gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Kroaten?

Viele Philosophen von heute denken, daß der Universalismus die Ablehnung des Nationalen voraussetze. Man kann ohne Sinn für das Universale nicht philosophisch denken, das stimmt. Aber ich glaube nicht, daß sich das Universale auf Kosten der nationalen Ansprüche erreichen läßt.

Ein großer Teil der französischen Intelligenz, Philosophen eingeschlossen, ja, mit den Philosophen an der Spitze, macht heute den Fehler, die Neubelebung der nationalen Gefühle als Nationalismus abzulehnen. So entstand die negative Beziehung zu Kroaten bei einem Teil der Intellektuellen. Im Namen des Universalen wird das Nationale negiert. Das ist keine Vorliebe für Serben, sondern Verachtung für die Nation, fürs Nationale. Weil sie hier keine klare Position haben, sind die Intellektuellen nicht in der Lage, den Unterdrücker vom Unterdrückten, den Angreifer vom Opfer zu unterscheiden. Frankreich vergißt eigene Traditionen, es vergißt, daß im Jahre 1848 Paris die Hauptstadt der freien Völker war. Alle Patrioten hatten in ihm seine Heimat. Michelet und andere erblickten keinen Gegensatz zwischen der Affirmation der universalen Werte und der Rechte der Nation auf Existenz, Gedächtnis und Tradition. Das war die Zeit, in der Aufklärung und Romantik den Frieden schlossen — können wir heute hinter diese Position zurückfallen?

Wie erklären Sie die Zurückhaltung der „neuen Philosophen“?

Die „antitotalitaristische“ Intelligenz — auch das gehört für mich zu den schmerzlichen Folgen des Krieges in Kroatien — hat eine verwunderliche Neutralität gezeigt. Sie hat gleichmäßig beide Seiten gescholten, jene, die treten, und jene, die getreten werden. Als Bernard Henri- Levy nach Jugoslawien ging, ging er nach Belgrad, ging er zum Aggressor. Also sind auch die berühmtesten Vertreter der antitotalitaristischen Intelligenz Zeugen für das politische und moralische Bankrott. Warum waren die Wegbegleiter des Kommunismus im Jahre 1956 in der Lage, die sowjetische Propaganda zu durchschauen, die behauptete, daß Ungarn ein faschistisches Land ist, daß es niemals Demokratie gekannt hat, daß es der letzte Verbündete Hitlers gewesen war, und daß deshalb die Intervention und die Erstickung des Aufstandes begründet seien? Wieso war Sartre in der Lage, diese Argumentation aufs schärfste zurückzuweisen, warum schrieb er das Vorwort für das Buch von Fejtö über die ungarische Tragödie? Heute hingegen unterliegen „Antitotalitäre“ wie z.B. Solschenizin und Havel der Manipulation der serbischen Propaganda, , die Kroaten zu „Ustascha“ deklariert. Das, was in Ungarn im Jahre 1956 scheiterte, gelingt in Kroatien im Jahre 1991 dank u.a. dem Schweigen der Intelligenz, die „neuen Philosophen“ eingeschlossen. Sie sprechen von einem Bürgerkrieg, obwohl es klar ist, daß der Krieg zwischen zwei Nationen geführt wird. Und sie verwickeln sich in einen Widerspruch, weil sie an Europa appellieren und gleichzeitig von einem Bürgerkrieg sprechen — was eine Intervention unmöglich macht. All das diskreditiert die Intelligenz völlig. Wozu so viele Worte, wozu eine derartige Kritik des Totalitarismus und ein derartiges Lob an die Dissidenz, wenn sie einen konkreten Totalitarismus nicht beim Namen nennen können? Alles, was früher war, hat keine Bedeutung mehr.

Denken Sie, daß die Franzosen Jugoslawien mit Serbien gleichsetzen? Auch Ihr Präsident spricht von geschichtlichen Banden der Freundschaft mit Serben. Und von Kroaten nur als den Verbündeten des Nationalsozialismus.

Die französische Diplomatie verfügt über einen alten Freundschaftsreflex zu Serbien, der jetzt durch die stupide Rivalität zu Deutschland wiedererweckt wurde. Wo immer Deutschland den Weg in Mitteleuropa zu bahnen versucht, ist Frankreich abwesend. Dafür sucht es aber Verbündete auf der anderen Seite und findet so Serbien, Griechenland, Rumänien, Iliescus Rumänien! Das ist eine Angelegenheit des Quai d'Orsay, der Diplomatie. Bei den Intellektuellen und Journalisten gibt es keine französisch-serbische Freundschaft, sie leben allzusehr in der Welt der Medien — und diese leidet an Gedächtnisschwund —, um von dieser alten Freundschaft zu wissen. Sie haben ein anderes Problem: Kroatien ist zu klein für sie. In ihrem Bewußtsein ist kein Platz für Kroaten. Und alles, was für sie nicht existiert, das existiert auch an sich nicht. Ein typisches Beispiel für die französische Arroganz.

Wie haben Sie überhaupt das kroatische Problem entdeckt?

Ich hätte mich nicht derart intensiv in Bewegung gesetzt, wenn ich nicht festgestellt hätte, daß sich die Tragödie Mitteleuropas, von der einmal Milan Kundera angesichts der „Sowjetisierung“ dieser Region sprach, fortsetzt, diesmal aber in Ljubljana und Zagreb, in einer Zeit, in der der Kommunismus gefallen ist. Die Tragödie, die vor dem Kommunismus in München begann, setzte sich trotz des Falls des Kommunismus fort. Ich sagte zu mir: Das kannst du nicht zulassen, das soll nicht möglich sein. Ich war in Jugoslawien, als dieses noch bestand, im Juni. Ich war in Belgrad und Ljubljana, aber nicht in Zagreb. Ich begriff viele Dinge, bemerkte die Hysterie in Belgrad und begriff in Ljubljana die Berechtigung ihrer nationalen Ansprüche. Dort verstand ich, daß man zugleich für die nationale Unabhängigkeit eintreten und gemäßigt sein kann. Als ich nach Paris zurückkehrte, war ich durch die völlige Zurückhaltung und Ignoranz der Presse und der Regierung verwirrt. Deshalb nahm ich von Anfang an, fast allein zunächst, Stellung. Es gibt Serben, die sagen, daß ich von den kroatischen Propagandisten mißbraucht werde. Das ist ihre Art, sich vor dem zu verteidigen, was ich über ihre gegenwärtige Politik sage. Ich lernte oppositionelle Persönlichkeiten aus Serbien kennen, mit denen ich auch jetzt im Kontakt stege, z.B. mit Ivan Djurić, der jetzt in Paris lebt, weil er aus Belgrad fliehen mußte. Man sollte Beziehungen zur Opposition pflegen, das ist der einzige kluge Weg für die französische Politik. Nur durch die Stärkung der serbischen Opposition kann man verhindern, daß alle Bande innerhalb von Jugoslawien reißen. Sonst wird sich der Krieg auf Bosnien und Mazedonien ausdehnen, immer nach dem gleichen Szenario: „spontane“ Reaktionen der Serben, die Autonomie anstreben, womit andere nicht einverstanden sind, was dann schließlich der Vorwand für die serbische oder föderale Armee ist zu intervenieren. Warum wird schon jetzt von Serben die Volkszählung in Mazedonien angefochten? So wird die Teilung Mazedoniens vorbereitet.

Wie ist die Gleichgültigkeit zu erklären, mit der die französische Politik die Entwicklung in Kosovo verfolgt? Über die Kosovo-Albaner wird kaum noch geredet.

Kosovo ist ganz aus unserem Blickfeld geraten trotz der Anstrengungen der Internationalen Föderation für Menschenrechte. Die Situation dort ist alarmierend, dort herrscht Terror, Apartheid. Man weiß alles darüber, aber es interessiert niemanden. Für mich ist das ein richtiges Geheimnis. In Frankreich gibt es immer noch eine Polarisierung im Hinblick auf den Apartheid in Südafrika, obwohl es dort offiziell kein Apartheid mehr gibt. Und Apartheid im Kosovo wird nicht bemerkt. Regt das wirklich niemanden auf?

Sie haben eine kritische Position gegenüber den Medien.

Ja, besonders gegenüber dem Rundfunk und dem Fernsehen. Im Augenblick, wo wir unsere Pressefreiheit und die Ablehnung jeglicher Orthodoxie feiern, sind wir Zeugen wirklicher Desinformation. In unserem Fernsehen haben am Mittags- und am Abendtisch Lügen Platz genommen. Erst gestern habe ich gehört, daß Vukovar zu 70 Prozent von Serben bewohnt ist, daß Serben in Slawonien die Mehrheit sind. Bei uns sprechen alle über Politik in der gleichen Weise, vom Journalisten bis zum Rock-Sänger. Kein Unterschied im Jargon von Patrick Bruel bis zum Elysée-Palast. Sie sagen das gleiche, mit dem gleichen Akzent. Ich habe den Eindruck, daß Kroaten heute die Quittung für Rumänien ausgestellt bekommen. Das Fernsehen hat den Eindruck, seinerzeit von der rumänischen Regierung manipuliert worden zu sein, und behandelt jetzt, um ihre Objektivität zu beweisen, in der gleichen Weise Informationen, die aus Kroatien kommen, und die serbische Propaganda. Ein Spiel zugunsten der Lüge. In Kroatien werden Schulen, Museen und Kirchen zerstört, sogar Friedhöfe — man tötet die Toten. Wie kann man diese Information auf die gleiche Ebene stellen mit der Behauptung, wonach dadurch die „bedrohten“ Serben geschützt werden.

Und die französische Regierung?

Was unsere Regierung durch die Forderung nach „humanitären Korridoren“ tut, läuft auf dasselbe heraus. Mit diesen Korridoren wird die Schaffung von Großserbien gefördert. Die französische Politik versucht die Ordnung zu erhalten, das ist ihre Hauptsorge. Der Kommunismus ist gefallen. Statt über die Freiheit zu reden, redet sie von der neuen Ordnung. Die Metterniche von heute sind viel dümmer als Metternich. Frankreich versucht, den Zerfall von Jugoslawien zu verhindern. Und was tut es, um die Repression in Kosovo zu verhindern? Was, um den Eroberungskrieg in Kroatien zu stoppen? Nichts. Und so wird es sich auch morgen verhalten, wenn der Krieg zur Eroberung Bosniens und zur Aufteilung von Mazedonien beginnen wird. Die heutige offizielle Propaganda in Serbien sagt: Europa gibt es nicht, wir werden Deutschland angreifen. Unser Feind ist Deutschland, das vierte Reich, aus Slowenien, Kroatien, der Slowakei bestehend. Am Vorabend von Maastricht sagte Frankreich das gleiche. Michel Fouchet, ein französischer Geograph, der sich mit unseren großen Persönlichkeiten aus dem Elysée- Palast dutzt, der ein sehr einflußreicher Fachmann ist und im Auftrag der Regierung nach Jugoslawien gereist ist, sagt, daß wir heute der Erneuerung der Grenzen aus dem Jahre 1942 miterleben. Das wagt heute ein französischer Fachmann zu sagen. Die Kroaten werden beschuldigt, in Erinnerungen und in der Vergangenheit zu leben. Das stimmt nicht, im Gegenteil, das tut Frankreich. Frankreich spricht so, wie wenn zwischen 1942 und heute nichts passiert wäre. Wie wenn die serbische Politik seit 1987 keine Konflikte angezettelt hätte, wie wenn die Autonomie von Vojvodina und Kosovo nicht abgeschafft worden wäre, wie wenn sich Serbien nicht frei aus der Bundeskasse bedient hätte, wie wenn es keinen Prozeß gegen slowenische Journalisten und Offiziere gegeben hätte. Frankreich weiß das alles nicht und erklärt, mit serbischer Hilfe, den Krieg einem imaginären Feind, wenn es Europa zu mobilisieren wünscht. Das ist eine unverständliche Schizophrenie. Ich schäme mich wegen meiner Regierung, das ist eine unglückliche Regierung, eine Regierung, die Unglück herbeiführt.

Denken Sie, daß Frankreich dennoch noch in diesem Jahr Kroatien anerkennen könnte?

Also Frankreich wird Kroatien nicht anerkennen, es sei denn, um Milosević mit seiner Forderung nach Grenzrevision zu befriedigen. Und das bei allen Risiken, die diese Politik für die Stabilität in der Region und in Europa überhaupt mitsichbringt. Leider wird die Anerkennung Kroatiens nicht das Ende der Probleme für Kroaten sein, weil Frankreich die annexionistischen Wünsche von Slobodan Milosević unterstützt.

In einem Interview sagten Sie von der Politik Milosević', sie sei kriminell. Wie kann Frankreich eine derartige Politik unterstützen?

Wenn die Linke Milosević unterstützt, so tut sie das im Namen ihres Jakobinismus, im Namen des Zentralismus und des starken Staates. Einige meinen, Milosević stellt ein Hindernis dar gegen die „Balkanisierung“, die Fragmentierung Europas, gegen Chaos und Unordnung — alles Dinge, die Michel Fouchet fürchtet. Wer so denkt, der nimmt am Verbrechen teil. Es ist klar, daß nach den Prinzipien der Nürnberger Prozesse dies ein verbrecherischer Krieg ist. Der Bericht der europäischen Beobachter sagt das. Das ist ein Bericht, von dem einem übel werden kann, weil er von der Zerstörung von Siedlungen, Vertreibung und Vernichtung von Menschen, Bombenangriffen auf Krankenhäuser handelt. Milosević muß morgen vor ein internationales Gericht gestellt werden. Wir erleben heute in Frankreich das Ende eines Regimes, das mit Demokratie nicht das Geringste zu tun hat — es ist eine arrogante und korrupte Autokratie. Früher wurden Debatten geführt — trotz der Unzufriedenheit der Intelligenz. Heute sind die Intellektuellen auch unzufrieden, aber es gibt keine Debatten. Als wir Argumente vorbrachten — philosophische, geschichtliche, politische —, nahm sie niemand ernst, obwohl sie auf Fakten beruhten. Unsere Regierung — Mitterrand, Badinter, Fouchet — hört nicht zu. Das ist eine autistische Regierung. Sie setzen immer wieder die gleiche Geschichte fort, wonach Kroaten und Serben ihre alten Rechnungen begleichen. Warum gehen die Slowenen weg? Da gibt es kein Mißverständnis mit Serben, ganz im Gegenteil, früher gab es eine Achse Blegrad-Ljubljana. Sagen Sie das! Sie werden sehen, niemand hört zu. Mitterrand sagt, Kroaten wären während des Kriegs auf der Seite der Nationalsozialisten gewesen, Serben auf der Seite der Alliierten. Das ist eine geschichtliche Lüge. Kroaten haben stärker am Widerstand teilgenommen als Serben aus Serbien. Es gab auch eine faschistische Regierung in Serbien, die von Nedić, und nicht nur das Pavelić-Regime in Kroatien. Unser Präsident verwechselt vermutlich die serbische Regierung während der Okkupationszeit mit der Exilregierung.

Wollen Sie möglicherweise damit Kroatien vor übertriebenem Optimismus warnen?

Nein, weil es auch andere Länder in Europa gibt. Ich glaube zu wissen, was unsere Regierung antworten wird. Jugoslawien gibt es nicht, aber wenn einige Republiken es bleiben wollen, können sie das tun. Das wird ein neuer Ansporn für Milosević sein. Man müßte sagen: Jugoslawien gibt es nicht. Punkt. Es müßte die Unabhängigkeit aller Republiken, die das wünschen, in ihren jetzigen Grenzen anerkannt werden. Das wird ein Schlag für die Moral der Armee und für ihren Krieg für ein totes Jugoslawien sein, das die Armee aus ihren Korporationsgründen führt. Und Milosević würde das zeigen, daß seine Ansprüche außerhalb dessen liegen, was Europa unterstützen kann. Sein Traum muß an dem zerschellen, was Europa zu schaffen versucht. Und alle, die das nicht tun werden, werden die Anstifter des Verbrechens sein. Was fürchte ich? Milosević als den Verbrecher auf der einen Seite und Frankreich als den Anstifter des Kriegs auf der anderen. Das ist hier schließlich mein Land. Übersetzung: Ivo Glaser