Neujahrsgrüße aus dem Flachland

Gérard Mortier „Die Banditen“ Musiktheater in Amsterdam und Brüssel  ■ Frieder Reininghaus

Der Jahreswechsel ist die Hoch-Zeit der Lustigen Witwen, Zigeunerbarone und Fledermäuse. Nach dem von Klaus Michael Grüber mit Bruno Ganz und tiefem deutschen Ernst in Szene gesetzten Hyperion von Bruno Maderna (Ende Dezember in der Stadsschouwburg Amsterdam) präsentierte De Nederlandse Opera zu Beginn des neuen Jahres eine französisch dominierte Produktion von Jacques OffenbachsLes Brigands in der ziemlich verlotterten Innenstadt von Den Haag. Dort hat der US-amerikanische Telecom-Riese A.T. & T. zusammen mit anderen finanzkräftigen und fiskusumschlingernden Großunternehmern, einer anonymen Gruppe von kleineren Steuersparern und der Gemeinde s'Gravenhage das Danstheater neben das Pullman-Hotel gesetzt: der rechte Ort für die Aufbereitung der Räuberpistole von Henry Meilhac und Ludovic Helévy.

Zum Star des Premierenabends wurde Berta. Sie, die unternehmungslustige Haushenne, zog im zweiten Akt gesteigerte Aufmerksamkeit auf sich. Regisseur Jérôme Deschamps, früher ein Weggefährte des Patrice Chéreau und heute eher Jérôme Savary zuneigend, hatte mit seiner ausstattenden Gattin Macha Makeieff das braune Federvieh — Berta und ihre Schwestern — an der Grenze zwischen Granada und Mantua angesiedelt, im Niemandsland hinter Pipos Feinschmecker-Restaurant. Das holländische Haushuhn aber hielt es nicht lange beim Picken der ihm zugedachten Körner zwischen den Grenzpfählen. Es schwang sich auf und ließ sich auf dem Lauf des Gewehrs nieder, das einer der bandenmäßig organisierten Banditen schwang, um die zur Vorbereitung der Vermählungsfeierlichkeiten von Prinz Peter und Prinzessin Leonie aus Spanien und Oberitalien angereisten Delegationen in Schach zu halten und einen der größten Beutezüge des Jahrhunderts zu veranstalten.

Aber es kommt ja alles anders, als man denkt. Auch Berta brach ihren Ausflug ins Reich der künstlerischen Freiheit wieder ab: ließ sich vom Lauf streifen und in ihren Stinkstall zurücktreiben. Die Inszenierung hielt sich konsequent an das Niveau des Jahres 1869, in dem das Stück entstand. Gespielt wurden dieseBanditen in einer klassischen Kulisse— die sieben Gassen des Theaters waren mit hintereinander gestaffelten und klassisch bemalten Dekorationen bestückt: Durch ein Felstor geht der Blick auf eine Waldlichtung, auf sanft begrünte Vorgebirgshügel, dann — im Hintergrund — steile Felsklüfte und einen spitzen Vulkan (der am Schluß ausbricht, da ja alles ein Tanz auf dem Vulkan war); oder aber es zeigt sich unterm Felsbogen statt der idyllischen Landschaft das Wirtshaus zum alten Zoll bzw. die Terrasse des lust- und leidgeprüften Palazzo der nicht eben genau bestimmten italienischen Residenzstadt.

Deschamps sorgt für witzige Einlagen und ironische Aper¿us. Zwei aus Falsacappas Bande haben eine allzu feuchte Aussprache. Die granadische Abordnung ist über die Maßen folkloristisch, so daß sie einem wirklich spanisch vorkommt. Eine der Damen, von denen es für Prinz Peter Abschied nehmen heißt, ist so jämmerlich besoffen, daß sie die Szene fast aus den Fugen hebt. Der reitende Bote wird mit einem Lasso von seinem Esel geholt. Der sensible Vierbeiner schließlich bleibt auch über die Aktschlüsse hinweg auf der Bühne, bis ihn der Karnevalslärm aus dem Orchestergraben in die Kulisse treibt.

Als ich die Räuber jetzt wieder ums Lagerfeuer sitzen und singen hörte, dachte ich: Sie haben zu viel Verdi gehört. Sie machen ihren großen Raubzug zu übertrieben stadttheatralisch, so daß niemand und zu keinem Zeitpunkt auf die Idee kommen könnte, diese Offenbach-Operette könnte gewisse prognostische Qualitäten gehabt haben, als sie am Lebensabend des französischen zweiten Kaiserreichs erstmals im ThéÛtre des Variétés erschien. Jérôme Deschamps suchte keinerlei Aktualisierung und präsentierte selbstvergessenes Theaterglück — ein Kindheitsmuster des modernen Theaters.

Und hat er nicht recht damit? Die Probleme, die Meilhac/Halévy/Offenbach vorführten, sind offensichtlich für immer aus der Menschheitsgeschichte verschwunden: Da haben wir eine Polizei, die nichts hört und sieht und allemal zu spät kömmt, wenn das organisierte Verbrechen tätig wird; eine Staatskasse, die leerer als leer ist; einen appetitlichen Haufen ehrlich zurückgebliebener Strauchdiebe, deren Anführer resigniert feststellen muß, daß sich sein Gewerbe neben der liebevollen Bemühung des fürstlichen Schatzmeisters oder des Leiters einer staatlichen Außenhandelsstelle nicht auszahlt.

Offenbachs Operette, von Louis Langrée in Den Haag musikalisch gut in der Balance gehalten, löst den Konflikt recht charmant: Sie erhebt den Räuberhauptmann zum Innenminister und übernimmt dessen Leute ins Beamtenverhältnis. Ob Finanzminister Antonio sich noch, wie das Werk in der Originalfassung es wohl vorsah, mit ungeteilter Aufmerksamkeit einer Führungsaufgabe im nichtstaatlichen Sektor der Kriminalität hingeben konnte, war in Den Haag wg. Vulkanausbruchs nicht mehr zu erkennen. Rasch kommt die Folge himmlisch trivialer, faschingsfeuchter und mitreißend kesser Melodien zum Ende: das Feuerwerk ist abgebrannt, das der Musik und des Theaters. Zurück bleibt der Kater: das soll alles gewesen sein?

Die Produktion von Les Brigands erschien als konsequentes Gegenbild von Klaus Michael Grübers Hölderlin/Maderna-Zelebration: dort die Berge als starre Abstraktion, hier als wackelnde und vom infernalischen Gesang der Gangster widerhallende Heimstatt des angeblich fröhlichen Banditenlebens; dort die fleißigen Bienchen unter der Plexiglashaube als Sinnbild vergeblichen Mühens, hier die fortdauernde Emsigkeit von Räubern und Gendarmen; dort die autistischen Solisten, die eher für sich (als für den Zuhörer) sprechen oder vor sich hin flöten, hier das Theater, das auf seine Zuschauer eindringt, aufmuntern, unterhalten und (natürlich insgeheim) belehren will. Es leert mehr, als es lehrt.

In Brüssel nahmen der in den letzten zehn Jahren so höchst erfolgreich agierende Directeur Gérard Mortier und sein getreuer Kapellmeister Sylvain Cambreling am Silvesterabend ihren Abschied. Letzterer geht als Chefdirigent an die Oper Frankfurt/ Main, Mortier als Schlüsselfigur ins Direktorium der Salzburger Festspiele (mit dem erklärten Ziel, diese zu modernisieren). Zum Finale kredenzten die Scheidenden sich und ihrem Publikum einen Friseur von Brüssel — Mozarts Figaro in der Zubereitung des Hausfreundes Mark Morris. Dieser amerikanische Ballett-Regisseur ist seit Herbst 1988 in der belgischen Hauptstadt tätig, hat sich mit zwei Tanzproduktionen dem Terrain der Oper angenähert (einem Händel- und einem Purcell-Abend).

Mit der Figaro-Inszenierung allerdings widerrief Morris alles, was Mortier an avancierterem Theater, elaborierten Inszenierungen nach Brüssel geholt hat: Den Augen bot sich eine einzige Trostlosigkeit — als Schloß des Grafen Almaviva war eine Ferienanlage im postmaurischen Stil errichtet worden. Kleinkariert und so richtig für Spießers Glück entworfen: Zimmerlein mit „antiken“ Türen, Trepplein mit Ornamenten, Simse mit den beliebtesten Topfpflanzen. Das alles ohne jeden Anflug von ironischer Absicht: das Stadttheater sollte wieder so richtig schön wie in alten Zeiten sein: bieder und mit rumpelnder Drehkulisse. Mark Morris kokettiert gern mit seinem Jugendtraum, Pizzabäcker zu werden. Man wünscht, der Wunsch ginge in Erfüllung.

Der Ballett-Konditor inszenierte eine der lächerlichsten provinziellen Possen und den gelungensten Kehraus des „Mozartjahres“. Vielleicht aber war, was auf den ersten Blick wie ein Affront der in Brüssel Hinterbliebenen und Nachfolgenden gegen den stilbewußten Mortier anmutete, tatsächlich dessen letzter Streich und von langer Hand geplant: damit die Leute sehen, wie schnell es wie schlimm kommen kann auf der Bühne, wenn er geht.