Algerien sucht sein Heil in der Flucht nach vorn

■ Knapp fünf Tage vor dem erwarteten Sieg der fundamentalistischen "Islamischen Heilsfront" (FIS) im zweiten Wahlgang ist Algeriens Staatspräsident Chadli Bendjedid überraschend...

Algerien sucht sein Heil in der Flucht nach vorn Knapp fünf Tage vor dem erwarteten Sieg der fundamentalistischen „Islamischen Heilsfront“ (FIS) im zweiten Wahlgang ist Algeriens Staatspräsident Chadli Bendjedid überraschend zurückgetreten. Um die Machtübernahme durch die FIS zu verhindern, soll ein „Staatsrat“ die Verfassung außer Kraft setzen und den Ausnahmezustand verhängen.

Als am frühen Samstag abend Panzer und Truppentransporter die Wohnsilos der Vorstadt von Algier erzittern ließen, wußten die Algerier, daß der junge Demokratisierungsprozeß im Lande tot war. Kurz nach acht Uhr unterbrach das staatliche Fernsehen ENTV seine Nachrichten für eine dringende Mitteilung des Präsidenten. Chadli Bendjedid, 63, saß bleich und erschüttert auf dem Diwan seines Salons und erklärte mit gebrochener Stimme: „Vor dem Hintergrund der Gefahren, die die Einheit unseres Volkes und die Stabilität des Landes bedrohen, habe ich beschlossen, ein Opfer im höheren Interesse der Nation zu bringen: Ich trete zurück.“

Chadli Bendjedids Sturz, nur fünf Tage vor dem zweiten Gang der Parlamentswahlen, bedeutete mit einem Schlag den Abbruch der Wahlen sowie die kaum kaschierte, neuerliche Machtübernahme der Militärs. Und er stoppte den Durchmarsch der Islamischen Heilsfront (FIS) zur Macht. Denn der für Donnerstag geplante zweite Wahlgang soll Medienberichten zufolge abgesagt werden. Der französische Fernsehsender Antenne-2 meldete, ein „Staatsrat“, der nach dem Rücktritt Chadli Bendjedids eingesetzt werde, wollte noch am Sonntag abend eine entsprechende Entscheidung verkünden.

Die Islamisten hatten den ersten Wahlgang trotz monatelanger Repression überlegen gewonnen und standen kurz vor der absoluten Mehrheit. Allen WählerInnen war klar, daß die FIS Algerien schrittweise in eine islamische Republik überführen würde.

Vor Radio- und Fernsehstationen, Nationalbank, Telefonzentralen, Kommissariaten, Parlament und auf wichtigen Kreuzungen gingen sorgfältig ausgewählte Einheiten der Berufsarmee in Stellung. Diese Soldaten genießen zahlreiche Privilegien, wie Dienstwohnungen oder armeeeigene Läden, und gelten als wenig FIS-anfällig. Aus Béchar und Télergma waren zwei Sonderdivisionen für den inneren Einsatz herangekarrt worden.

Am Sonntag morgen lag eine gespannte Ruhe über Algier, Constantine, Oran und Annaba. In Bab-el- Oued warteten kleine Gruppen Islamisten auf das Losungswort zum Aufstand. Die nichtinhaftierten FIS- Chefs waren über Nacht abgetaucht und tagten an geheimem Ort. Der Sprecher der sozialdemokratischen FFS von Ait Ahmed sagte, er fürchte, Chadlis Rücktritt werde das Land in „einen Teufelskreis stürzen. Vielleicht ist das der endgültige Tod der Demokratie.“ Eine Ärztin, Anhängerin der FFS, hingegen freute sich und mit ihr viele gutsituierte BürgerInnen: „Um die Islamisten ist es geschehen. Ich atme auf.“

Neben Chadli auf dem Diwan saß der Mann, der jetzt für 45 Tage das Amt übernimmt — mit der einzigen Aufgabe, vorgezogene Präsidentenwahlen zu organisieren: Abdelhamid Benabylès, 60, Karrierediplomat, früherer Botschafter in Tokio und Bern, Vertrauter Chadlis und Präsident des Verfassungsrates. Der Übergangsjob wäre gemäß Verfassung an den Parlamentspräsidenten gefallen. Dem wurde aber ein Faible für die Islamisten nachgesagt. Chadli erklärte darum rückwirkend auf den 4.Januar das Parlament für aufgelöst. Eine knappe Stunde später meldete sich Premierminister Sid Ahmed Ghozali zu Wort, der vor ein paar Tagen noch seinen Rücktritt angekündigt hatte: „Ich habe die Armee gebeten, ihren verfassungsmäßigen Auftrag wahrzunehmen und die republikanische Ordnung sicherzustellen.“ Ghozali wandte damit zum ersten Mal eine Gesetzesnovelle vom 6.Dezember an, die den Einsatz der Armee auch ohne Ausnahmezustand ermöglicht. Verteidigungsminister Khaled Nezzar darauf: „Wir werden uns der Aufgabe mit der üblichen Treue der Streitkräfte zur Verfassung entledigen. Wir sind die letzten Garanten der Errungenschaften der Revolution.“

Hinter dem demokratischen Schattenspiel zeichnet sich der Staatsstreich ab. Die Armee hatte vor den Wahlen gedroht, den Volkswillen nicht zu akzeptieren, falls er die Islamisten an die Macht heben sollte. General Chadli Bendjedid wurde von seinen Kameraden der Generalität abgesetzt. Die starken Männer des Regimes heißen General Nezzar (Verteidigungsminister), General Larbi Belkheir (Innenmminister) und General Guenaiza (Generalstabschef). Einen Putsch darf man den Vorgang nicht nennen — die Armeespitze hält die Macht seit der Unabhängigkeit, mit wechselndem Personal. „Andere Länder“, hat der Historiker Mohamed Larbi notiert, „haben eine Armee. In Algerien hält sich die Armee ein Land.“

Es war die Militär-Nomenklatura, die Chadli 1979 nach Boumedienes Tod auf den Präsidentensessel gehievt hatte — auf Empfehlung der gefürchteten und mächtigen Geheimpolizei „Sécurité militaire“. Sie setzte ihn nun ab, weil Chadlis Sturz zum einen der notwendige Gegenpart — Vorwand und Bauernopfer — zur Annullierung der Wahlen ist; zum anderen hatte Chadli Bendjedid die Demokratisierung in den Augen des Regimes zu weit getrieben und galt als unsicherer Kantonist, seit er vor wenigen Tagen eine mögliche Kohabitation mit den Islamisten nicht mehr ausschließen mochte.

Die versprochene Neuwahl ist ungewiß. Einziger logischer Kandidat auf seiten der Islamisten, der stärksten und repräsentativsten politischen Kraft im Lande, ist Mohamed Abassi Madani. Der FIS-Chef aber sitzt im Militärgefängnis von Blida unter Anklage des bewaffneten Aufruhrs. Die Militärs wollen ihn nicht freigeben. Aktionen der Islamisten für die Befreiung der „Geisel“ (FIS) wären ein willkommener Anlaß für die Militärs, die FIS im zweiten Anlauf von der politischen Karte Algeriens zu tilgen. Das ist ohnehin die Intention eines großen Teils der Militärs. Und den Vorwand könnten sie bequem selber liefern: In der vorletzten Woche flogen sie drei Flugzeugladungen falscher Islamisten als Provokateure nach Algier. Die Armee — das zeigen der Oktober 1988 und der Juni 1991 — scheut das Blutbad nicht. Ein Oberst der Reserve: „Lieber eine Bananenrepublik als die islamische Republik.“

Wer diesen Vorgang verstehen will, muß einen Blick in die Innereien des algerischen Systems wagen. Nach der Unabhängigkeit organisierte Boumediene — er hatte sich gerade seines Vorgängers Ben Bella entledigt — die Macht als fein ausbalanciertes Gleichgewicht von Clans um die militärischen Chefs, der einzigen Elite, die dem Befreiungskampf entstiegen war. Die Clans bereicherten sich am industriellen Aufbau und an den Importen. Der Staatskapitalismus war ihr Tummelfeld und die Einheitspartei FLN der Ort, wo der Konkurrenzkampf ausgetragen wurde. Das Volk wurde mit einem vergleichsweise hohen Lebensstandard ruhiggestellt.

Doch schon in den letzten Boumediene-Jahren stieß das System an seine Grenzen. Chadli versprach die Öffnung auf den Weltmarkt und frisches Kapital. Doch Mitte der achtziger Jahre brach mit dem Zerfall der Erdölrente der Konsens: Der Staat verlor seine Rolle als Verteiler und die FLN ihre Rolle als Regulativ. Chadli brach den Widerstand der Bürokraten, nahm Distanz zur bremsenden FLN und legte unlängst die Geschicke Algeriens in die Hände der Weltbank. Der Aufschwung blieb aus — im letzten Quartal ist die algerische Wirtschaft praktisch zum Erliegen gekommen —, und der Unmut fand bei den Islamisten dankbare Zuhörer. Aber genau das wollen die Generäle-Kapitalisten nicht zulassen. Und genau daran scheiterte Chadli Bendjedid.

Das erklärt auch — eher als die Ängste vor der totalitären Versuchung — den knappen Spielraum der FIS. Jede politische Änderung schneidet tief in die Pfründe und Privilegien der schmalen Nomenklatura. Den Islamisten bleiben nach dem „Staatsstreich“ der Generäle gegen den Volkswillen zwei Strategien: Sie arrangieren sich mit den gemäßigten Kräften zu einer Koalitionsregierung oder suchen die Konfrontation auf der Straße. Das Arrangement setzt die Bereitschaft des Regimes voraus, die Macht zu teilen. Es spricht wenig dafür. Gestern sickerte in Algier durch, die Militärjunta hinter Premier Ghozali habe die Verfassung eingefroren, den Verfassungsrat aufgelöst und einen „Staatsrat“ der Generäle eingesetzt. Dahinter dräut die Frage, wie lange sich gegen das Volk und die Islamisten regieren läßt, wenn etwa die Arbeitsproduktivität eine fatale Neigung gegen Null aufzeigt.

Just an diesem Punkt setzen „Mittler“ wie der islamistenfreundliche frühere Premierminister Abdelhamid Brahimi an: „Der Islamismus ist eine Kraft in unserem Land geworden, ohne die nichts mehr geht. Wir brauchen eine neue, nationale Versöhnungsfront.“ Zwingen die Generäle die Islamisten aber auf die Straße, droht, wie ein Anhänger der FIS es ausdrückte, „der Bürgerkrieg“. Oliver Fahrni