Das falsche Bild der Kinderlähmung

■ Mit dem Älterwerden läßt die Impfmoral nach / Trotzdem 80 Prozent geschützt

Der Name Kinderlähmung trügt, denn es kann jeden treffen. Und gerade bei Erwachsenen läßt die Moral bei der Vorbeugung gegen das teuflische Virus nach. Poliomyelitis heißt die Krankheit auf ärztechinesisch: Wer daran leidet, dem kriecht das Virus ins Zentralnervensystem und verursacht Lähmungen der Muskulatur.

95 Prozent aller Kinder, aber schätzungsweise nur noch 80 Prozent aller Erwachsenen, so der Bremer Kinderarzt beim Hauptgesundheitsamt, Eberhard Zimmermann, sind durch ausreichende Impfungen geschützt. Wirkungsvollen Schutz hat nur, wer seine Grundimmunisierung (bestehend aus drei Impfungen) alle zehn Jahre wiederholt.

Dafür bietet das Hauptgesundheitsamt jedes Jahr im November und Januar Schluckimpfungen an. „Wir haben festgestellt, daß die Leute in den normalen Praxen kaum nach ihrer Immunisierung gefragt werden. Seitdem bieten wir den Schutz in allen Stadtteilen an“ (siehe Kasten). 8.000 bis 10.000 Bremerinnen und Bremer schlucken jedes Jahr in umliegenden Schulen und Ämtern den mit Impfstoff getränkten Würfelzucker.

Seit Anfang der 60er Jahre ist diese Form des Schutzes erst bekannt. Vorher war die „Kinderlähmung“ eine echte Volksseuche. In Bayern beispielsweise waren zwischen 1952 und 1961 7.238 Fälle von Kinderlähmung gemeldet, davon waren 4.665 Lähmungsfälle und 715 Sterbefälle. Nach Einführung der Schluckimpfung, in den Jahren 1963-72, registrierte man in Bayern 36 (!) Erkrankungen, davon 33 mit Lähmungserscheinungen, wiederum 14 mit Todesfolge.

Gegen Kinderlähmung ist nach wie vor kein Kraut gewachsen. Keine Therapie kann die Schäden, die durch das Virus auftreten, wieder gutmachen. In der medizinischen Literatur taucht die Kinderlähmung erstmals in der Mitte des letzten Jahrhunderts auf, bekannt sind aber Krankheitsfälle schon aus dem Altertum. Erst nach dem zweiten Weltkrieg gelang es, Polioviren zu züchten und damit die Grundlage zu schaffen für die Herstellung eines Impfstoffes, der dann seit 1962 auch in der Bundesrepublik „geschluckt“ wurde.

Die Chancen für ein endgültiges Ende der Seuche stehen nicht schlecht. Voraussetzung sei allerdings, so Zimmermann, daß die Impfquoten weiter flächendeckend hoch bleiben. Ein entsprechendes Ziel weltweit hat sich die Weltgesundheitsorganisation gesteckt. Bis zum Jahr 2000 soll die Seuche ausgerottet sein. Bisher gelang das weltweit nur bei den Pocken.

Die Polio-Impfungen werden in der Bundesrepublik übrigens nicht registriert. Die Impfquote errechnen die Gesundheitsämter aus den Angaben des schulärztlichen Dienstes, der die Stöpsel untersucht, wenn sie eingeschult werden. mad