Eilmarsch Richtung Markt?

Der Streit um das Vermögen der ehemaligen Sowjetarmee in Lettland  ■ VON OJARS J. ROZITIS

Auf 234 Objekte verteilt, ist es ein Areal von über 100.000 Hektar, über das die sowjetischen Streitkräfte zur Zeit in Lettland verfügen: Kasernen, Luft- und Marinestützpunkte, Übungsplätze, Radarstationen und Depots. Rund ein Drittel dieser Fläche haben sich die Militärs nach Angaben der Umweltbehörde in Riga ohne vorherige Genehmigung angeeignet, ein Exempel für die Willkür, mit der in den vergangenen Jahrzehnten gegen zivile Belange in einem annektierten Land verstoßen worden ist. Ferner sind in Lettland allein in den letzten fünf Jahren 10.700 Wohnungen für Angehörige der sowjetischen Truppen gebaut worden.

Nach der Unabhängigkeitserklärung der Baltenrepublik am 21. August und der diplomatischen Anerkennung durch die UdSSR am 6.September ist der Abzug dieser Streitkräfte aus Lettland einer der zentralen Punkte in den Verhandlungen zwischen Riga und der Moskauer Zentralregierung. Während der lettische Delegationsleiter Janis Dinevics einen Abzug binnen zwei Jahren anstrebt, will sich die sowjetische Seite bis 1994 oder 1995 Zeit lassen. Das Insistieren Lettlands auf einen möglichst frühen Termin hat nicht nur mit dem Bestreben zu tun, die Folgen der Annexion durch die UdSSR umgehend zu beseitigen; auch die aktive Parteinahme des zuständigen baltischen Wehrbezirks für die Moskauer Putschisten spielt hier eine wichtige Rolle. Nach inoffiziellen Angaben, die der Regierung in Riga vorliegen, sind in Lettland zur Zeit etwa 120.000 Sowjetsoldaten stationiert, darunter 40.000 Offiziere und Unteroffiziere. Ferner kommt jedoch noch eine mindestens gleich hohe Anzahl von pensionierten Offizieren und deren Familienangehörigen hinzu, die sich in der Baltenrepublik niedergelassen haben. Im übrigen wird der aktiven Truppe ebenso wie den militärischen Ruheständlern mit einem Beschluß des Rigaer Parlaments vom 15.Oktober die Möglichkeit verwehrt, die lettische Staatsangehörigkeit zu erwerben.

Erschwert werden die Verhandlungen über den Truppenabzug durch den Umstand, daß die UdSSR zwar die Souveränität Lettlands anerkannt hat, sich — wohl eingedenk der völkerrechtlichen Konsequenzen — bislang jedoch nicht zu dem Eingeständnis durchgerungen hat, daß es sich bei dem Anschluß der Baltenrepublik 1940 an die Sowjetunion um eine Besetzung gehandelt hat.

Die zögerliche Haltung Moskaus hat aber auch handfeste praktische Gründe: Wie sich bereits beim Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der ehemaligen DDR gezeigt hat, ist die Union auf eine Rückkehr der Truppen denkbar schlecht vorbereitet. Es kommt hinzu, daß die baltischen Staaten — im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland — nicht in der Lage sind, flankierende Maßnahmen zu finanzieren. Der Vorschlag der Volksfront Lettlands, diese aus sowjetischen Reparationen an die Ostseerepubliken zu begleichen, dürfte angesichts der schwindsüchtigen Moskauer Kassen und des endgültigen Zerfalls der Zentralmacht auf absehbare Zeit wohl eher ein frommer Wunsch sein.

Privatisierung des Armeevermögens?

Diese Perspektive hat ihrerseits bei den sowjetischen Streitkräften und Militärpensionären im Baltikum bereits heftige Unruhe ausgelöst. Entsprechend meldete sich Mitte November auf einer Pressekonferenz in Moskau ein „Koordinierungsrat“ zu Wort, der sich eigenen Angaben zufolge als Interessenvertretung der im baltischen Wehrbezirk dienenden Truppen, Zivilangestellten und Veteranen sowie „aller russischsprachigen Einwohner Litauens, Lettlands und Estlands“ versteht. Der „Koordinierungsrat“ verlangt, an allen Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Streitkräfte beteiligt zu werden; eine Rückführung der Gruppen kommt für ihn ohnehin nicht vor 1994 in Frage. Wie ein Sprecher des baltischen Wehrbezirks eine Woche später in Riga mitteilte, müsse zuerst die Zuteilung von ausreichendem Wohnraum für die abziehenden Soldaten sichergestellt sein.

Aufhorchen läßt, daß im „Koordinierungsrat“ auch nicht näher bezeichnete Unternehmerkreise aus Rußland“ vertreten sind. Tatsächlich schlägt das Gremium in seinem ökonomischen Aktionsprogramm zum Zweck eines schnellen und „zivilisierten“ Abzugs der Sowjettruppen die Privatisierung aller Objekte vor, über die die sowjetischen Streitkräfte im Baltikum zur Zeit noch verfügen. Mit den erzielten Erlösen sollten dann Wohnungen gebaut und entlassene Offiziere umgeschult werden. Zur Durchführung derartiger Maßnahmen sei bereits der Konzern „Russobaltvest“ gegründet worden.

Mit diesem Vorhaben gerät der „Koordinierungsrat“ freilich in Konflikt mit dem Beschluß des Rigaer Parlaments vom 5. November, mit dem alle Einrichtungen der sowjetischen Streitkräfte auf lettischem Boden zunächst in das Eigentum der Baltenrepublik überführt werden. Ferner wird darin festgelegt, daß alle kommerziellen Aktivitäten der Armee einer vorherigen Genehmigung durch die lettische Regierung bedürfen. Mit dieser Entscheidung hatten die Volksvertreter allerdings auch eine alternative Vorlage verworfen, die es in Lettland eingetragenen Unternehmen ermöglichen sollte, Liegenschaften und nichtmilitärisches Inventar gleichsam direkt von den Truppenteilen zu erwerben. Für diese Vorgehensweise hatte sich ausgerechnet der nationalradikale Abgeordnete Odisejs Kostanda stark gemacht, ansonsten ein beredter Gegner des sowjetischen Militär- und Besatzungsapparates.

Seine Argumentation gegenüber der Tageszeitung 'Diena‘: „Wenn wir verhindern, daß Unternehmer Geschäfte mit den Vertretern der Streitkräfte tätigen, wird die Armee von selbst Möglichkeiten finden, ihren Besitz zu veräußern. Ferner ist zu berücksichtigen, daß Armeetransporte laut Regierungsbeschluß keiner Zollkontrolle unterliegen. Die werden alles außer Landes bringen, einschließlich der Werkbänke aus den Fabriken.“

Am selben Tag, als das Parlament in Riga den Beschluß zur Überführung der Armeeliegenschaften in Republikeigentum verabschiedete, erfuhr die erstaunte Öffentlichkeit, daß es bereits zum ersten Verkauf eines Militärobjektes gekommen war: Die Reparaturwerkstatt der Kriegsmarine in Liepaja war in den Besitz der lettischen Anteilsgesellschaft „Software House Riga“ übergegangen. 'Diena‘ gegenüber erklärte der Finanzchef der Firma, Andris Talbergs, daß der Betrieb vor allem Ausbesserungsarbeiten an den örtlichen Fischereischiffen durchführen werde, daß jedoch ein Teil der Kapazitäten für die Generalüberholung von Schiffsmotoren in sowjetischem Auftrag reserviert sei.

Verkauf oder Demontage?

Auf die Frage, ob das Geschäft mit Zustimmung der Regierung in Riga zustande gekommen sei, führte Talbergs aus: „Große Begeisterung hat es bei der Regierung nicht ausgelöst, aber was soll man da tun — der Betrieb ist aus Mitteln der Kriegsmarine gebaut worden; für diese lautete die Frage ganz kraß — entweder jemand kauft den Betrieb, oder er wird demontiert, aber auf gar keinen Fall wird er der Regierung überlassen. Hier ist Psychologie im Spiel: Die Marineangehörigen werden hinausgeworfen, sie müssen in Zelten wohnen. Warum sollten sie dann den Betrieb der Regierung überlassen? Sie können ihn doch demontieren und samt den 1986 hergestellten Werkbänken in Königsberg wieder aufbauen. Wir wären dann gezwungen, ihn von Rußland zu erwerben.“

Da in Lettland der innenpolitische Druck in Richtung auf eine schnelle und umfassende Privatisierung zunimmt, ist nicht auszuschließen, daß das Parlament in Riga früher oder später seinen Beschluß vom 5. November revidiert. Damit aber wäre der Boden für eine Melange geschaffen, in der sich Marktwirtschaft und Überlebensinteressen der konservativen Militärs auf höchst eigentümliche Weise verquicken. Als Vorbild könnte sich dabei etwa der im Sommer eingeleitete Versuch der orthodoxen KP Lettlands erweisen, die in der Baltenrepublik angesiedelten Allunionsbetriebe zu einer Industrieholding zusammenzufassen, die einer lettischen Kontrolle entzogen bliebe. Erst der Augustputsch brachte dieses Vorhaben zu Fall. Und dann gibt es noch den erzreaktionären „schwarzen Oberst“ (und Letten) Viktors Alksnis, der die Marktwirtschaft unter den Bedingungen einer erbarmungslosen politischen Diktatur einführen möchte.

Alldieweil hält sich die Zentralregierung in Moskau bedeckt, was die Aktivitäten ihrer Streitkräfte im baltischen Wehrbezirk angeht. Von der Androhung des „Koordinationsrats“, man werde einen „verbrecherischen“ Befehl zum Abzug so lange verweigern, wie die soziale Absicherung der zurückverlegten Truppen in der Union nicht gewährleistet sei, zeigte sich ein Sprecher vom Verteidigungsministerium, Jewgenij Schaposchnikow, Ende November wenig beeindruckt: „Es liegt nicht im subjektiven Ermessen eines Soldaten, darüber zu entscheiden, ob ein Befehl verbrecherisch ist oder nicht.“ Allerdings habe Schaposchnikow dem baltischen Wehrbezirk zugesagt, mit dem Abzug nicht vor 1994 zu beginnen; im übrigen werde er es nicht zulassen, daß auch nur ein Offizier nach der Rückkehr in seine Heimat ohne Wohnung dasteht.