Das Prinzip Provinz

Dimiter Gotscheff rehabilitiert Klaus Pohls „Die schöne Fremde“  ■ Von Christof Boy

Ein kurzes Stück über die Deutschen. In kaum mehr als anderthalb Stunden, in einem einzigen langanhaltenden Atemzug ohne Pause, eilt der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff durch den Mief der deutschen Provinz. Klaus Pohl hat zornerfüllte Texte mit kaum unterdrücktem Haß gegen die Spießigkeit und die dumpfe Gewalt der deutschen Seele geschrieben. Gotscheff geht noch weiter und karikiert die Figuren bis zur Unerträglichkeit. Klaus Pohls neues Stück berichtet von einem dörflichen Drama in Bebra. Bebra ist ungefähr die Mitte Deutschlands und deshalb der Durchschnitt.

Ganz Deutschland ein Kasperltheater. Der Vorhang, rot wie beim echten Puppenspiel, öffnet sich, aber der Raum dahinter wird nicht offener. Die Maske der Bühnenverkleidung behindert den Blick. Auf der Bühne ein Tisch, lang genug für ein Abendmahl; fett wie die Weihnachtsgans, die gerade verspeist wurde, thront die Wirtin auf dem Tisch, die Haare zu zwei ordentlichen BDM-Zöpfen aufgesteckt, an ihre mütterlich-deutsche Brust zwei der Gäste gedrückt. Klipp, klapp, klipp, klapp, wiederholen die Gebrüder Maul den Refrain eines altbekannten Liedes. Im Hintergrund Gebell. Es jaulen die Hunde am rauschenden Bach, und leise rieselt der Schnee auf das Haupt der Blonden nieder. Ein Hundezüchter mit bißfestem Armschutz trägt seinen Gero, einen rassigen Schäferhund, ins Hotel „Reichsapfel“, wo sich die besinnliche Runde zum Gansessen eingefunden hat. Gero ist nackt, ein schöner Jüngling mit wohlproportionierten Muskeln und bronzefarbener Haut.

Dimiter Gotscheff nimmt nie den direkten Weg über die naheliegende Assoziation von Brutalität und Machtgier, die sich im Verhältnis Herr und Hund schon fast zwingend aufdrängt. Indem er einen gottgleichen Adonis in die Rolle des Schäferhundes zwingt, schließt er alle ein, Schäferhundzüchter und die Kritiker der Schäferhundzüchter, die von jener unerklärlich kranken Liebe zu Deutschland befallen sind. Klaus Pohl liebt die Deutschen, deshalb kann er nur hassen, Dimiter Gotscheff ist kein Deutscher. Er kann unbestechlicher bleiben und auch das Groteske dieser Haßliebe des deutschen Intellektuellen mit einbeziehen.

Die schöne Fremde ist ein Stück der Übertreibungen, über den Stammtisch für den Stammtisch. Eine Amerikanerin namens Margret verschlägt es nach Bebra, weil der Zug im Schnee steckenbleibt. Für eine Nacht will sie im Hotel „Reichsapfel“ ihr Notquartier aufschlagen, nicht ahnend, daß hier Fremde selten willkommen sind, und schöne Fremde gar gleich als Nutten behandelt werden. Wie die Sonderbehandlung für häßliche Fremde aussieht, muß sie gleich zu Beginn miterleben. Ein Russe wird von den rechtsradikalen Gebrüdern Maul zusammengeschlagen, daß er tot zusammenbricht, nur weil er ihren Geländewagen zugeparkt hatte.

Ihr ergeht es nicht besser. Der Schäferhundbesitzer Lutter steigt ihr ins Hotelzimmer nach, bedrängt sie mit dem Hund, demütigt und vergewaltigt sie, ohne dabei seinen Bißschutz abzulegen. Und natürlich, da bleibt Klaus Pohl ganz nah am Leben, ist sie selber schuld, sie, die sich doch von Anbeginn aufreizend und begehrlich durch Bebra bewegt hat, doch nur eine Hure, der man nichts glaubt. So bleiben Vergewaltigung und Totschlag ungesühnt, denn in der Sippe der Dörfler gibt es immer genug Zeugen, die beschwören können, daß alles ganz anders gewesen sei.

Doch Klaus Pohl läßt es nicht dabei bewenden, und das macht das Stück so schwierig. Er, der bisher nie nach Ursachen gefragt hat für die delirierenden Taten der Provinzler, zeigt plötzlich mehr als nur Wirkungen. In einer Szene trifft Margret ihren Bräutigam Leon, einen Kosmopoliten, der vielleicht „Europe in Ten Days“ besuchen würde, nie aber auch nur einen Fuß in ein Nest wie Bebra setzen würde. Mit ihm blickt der Zuschauer plötzlich in ihr Inneres. Margret ist die Tochter einer Jüdin, die vor den Nazis aus Deutschland fliehen mußte. Die Turnhalle, in der sie nach dem unvorhergesehenen Zwischenstopp in Bebra untergebracht werden soll, erinnert sie zu sehr an die Stationen ihrer Kindheit. Deshalb ist sie durch den Schnee nach Bebra gegangen, hat sie am Hotel „Reichsapfel“ geklingelt. Deshalb ist sie vergewaltigt worden. Ihr Verhalten wird erklärt, auch, warum in ihr das Geschwür der Rache wuchert, die sie zurücktreibt nach Bebra, wo sie sich schließlich als Prostituierte verkauft, um sich ihrer Peiniger zu entledigen.

Die Diskrepanz zwischen den Abgründen einer Seele, die sich nur durch Rache zu helfen weiß, und der Oberflächlichkeit der Dorfdeppen ist die eigentliche Herausforderung des Stückes. Gotscheff poliert die Pohlschen Oberflächen noch glatter, zeichnet die Figuren noch schriller, treibt die Handlung zur Farce. Spuckend, sabbernd, rot anschwellend zetert Malermeister Maul über grasgrüne Arschlöcher, Zonenrandförderung und Sozialhilfe für das ganze Aussiedlerpack. Dabei zuckt sein Körper wie bei einem spastischen Anfall. In den extremen körperlichen Verrenkungen, die Gotscheff seinen Schauspielern bisweilen abverlangt, gelingt ihm etwas, was nicht in den Texten liegt: die physische Befindlichkeit des deutschen Stammtisches freizulegen — irgendwo zwischen „Heil Hitler“ und Herzanfall. Klaus Pohl ist böse, platt und aggressiv. Dimiter Gotscheff ist böser, platter, aggressiver und rettet damit das Stück, das nach der Uraufführung während der Ruhrfestspiele in Recklinghausen derart verrissen wurde, daß es fast als unspielbar gelten mußte. Im Kleinen Haus in Düsseldorf ist jetzt zu erleben, wie es doch geht — in der Übertreibung der Übertreibung. Indem Gotscheff urdeutsche Attitüden vom Tannenbaum zum Strumpfhalter visuell strapaziert, gelingt ihm etwas Allgemeingültiges: das Prinzip Provinz. Erst Bebra, Düsseldorf, und dann die ganze Welt.

Die schöne Fremde von Klaus Pohl. Regie: Dimiter Gotscheff, Ausstattung: Achim Römer. Mit: Marianne Hoika, Thomas Lang, Dieter Prochnow, Daniel Berger u.a. Düsseldorf, Kleines Haus. Nächste Aufführungen: 17., 24. und 29.Januar.