Birmingham probt den Aufstand

„In zehn Jahren wird hier mehr passieren als in London“: Investitionen in die Kultur  ■ Von Thomas Langhoff

Eingeklemmt in die fußgängerbefreiten Asphalttrassen und Betonschluchten des bullring von Birmingham, versteckt sich eine Gedenktafel. „In keiner anderen Zeit und in keinem anderen Land“, so steht es geschrieben, „gab es je eine solch bewundernswerte Entfaltung menschlicher Geistesgröße, wie wir sie in Birmingham finden können.“ Die Worte sind die des Dichters Robert Southey, die Entstehungszeit liegt lang zurück: Die emphatische Lobeshymne stammt aus dem Jahr 1807.

Nun, im Jahr 1992, nach Jahrzehnten der Krise, scheint es wieder Zeit, dem Dichterwort Aufmerksamkeit zu schenken: Der Kulturrat hat Birmingham zur ersten „Kulturstadt Großbritanniens“ auserkoren. Nachdem die zweitgrößte Stadt des Königreichs ihr „Jahr der Musik“ abgefeiert hat, widmen sich andere Städte im jährlichen Turnus den übrigen Künsten. Angelehnt an den EG- Zyklus der „Kulturhauptstädte“ will der Kulturrat, der die staatlichen Subventionen verwaltet, mit seiner Initiative „den Beitrag der Kultur zum Leben der Nation“ und „den Wert der Künste für die urbane Regeneration“ betonen. Im „Jahr der Musik“ werden im Emigrantenpool Birmingham neben dem „Symphony Orchestra“, dem „Royal Ballet“ und der „D'Oyly Carte Company“ auch Gruppen aus Tibet, Pakistan und Indien zu erleben sein. (Ein Viertel der Bevölkerung hat ihre Wurzeln im asiatischen und afro-karibischen Raum).

Mit der Wahl Birminghams als Premierenstätte würdigt der Kulturrat die enormen Anstrengungen, mit denen die verrufene Industriemetropole sowohl ihr frustrierendes Stadtbild als auch ihr heruntergekommenes Stadtleben saniert hat. 1988 noch rangierte Birmingham auf der Beliebtheitsskala britischer Städte ganz unten, heute wird sie als ernsthafte Konkurrenz für den vor sich hin dösenden Millionenklumpen London gehandelt. „Birmingham wird die große Stadt dieses Jahrzehnts sein, wenn nicht des Jahrhunderts“, ließ sich der Tory-Führer Reg Hales etwas überschwenglich vernehmen, „in zehn Jahren wird hier mehr passieren als in London.“

Nachdem die große Rezession der Endsiebziger die Automobilindustrie traf und Zehntausende arbeitslos machte, überraschte der Stadtrat von Birmingham mit einer etwas skurril anmutenden Reaktion: Er verabschiedete 1982 eine neue „Kulturpolitik“, die auch die Sanierung der kaputten Innenstadt umfaßte.

Was lange Zeit von der Öffentlichkeit unbeachtet blieb, sollte Jahre später mit mehreren Großereignissen Schlagzeilen machen: 1990 zog das „Sadler's Wells Royal Ballet“ von London nach Birmingham, und ein Jahr später inaugurierte das „Birmingham Symphony Orchestra“ unter Simon Rattle den neuen Symphoniesaal. Gleichzeitig putzten Architekten und Künstler den zentralen „Centenary Square“ auf. (Bald werden sie auch das verhaßte Teerlabyrinth des „bullring“ zerhackstücken dürfen.) Mit Lesungen, Konzerten und Ausstellungen zeichnete Birmingham im letzten Jahr eine Art kulturelles Sittenbild der Zeit von 1900 bis 1910 und eröffnete damit einen auf zehn Jahre angelegten Zyklus mit dem Titel „Towards the Millenium“. In jedem Jahr wird ein Jahrzehnt vorgestellt.

Die Hauptstadt hatte zu dieser Zeit nur Bankrotte zu vermelden: Die „Royal Shakespeare Company“ ließ den Vorhang wegen Geldmangels für einen Winter fallen, die Schauspieler des „Lyric Theatre“ und die Tenöre des „Royal Opera House“ humpelten in thatchergeschulter „eigentlich-sind-wir-vollkommen- pleite-aber-was-soll's-Kunst-ist-sowieso-Scheiße“-Haltung über die Bühne. Birmingham zeigt sich für englische Verhältnisse ungewohnt großzügig. Für den Symphoniesaal, der Teil des neuen Kongreßzentrums ist, machten die Stadtväter 80 Millionen Mark locker. Der Gesamtkomplex kostete 500 Millionen Mark.

Um die Edeltänzer des „Sadler's Wells Royal Ballet“ aus London wegzulocken, haben die Lokalpolitiker als Ablösesumme drei Millionen Mark an „artistischer Förderung“ versprochen, nochmal drei Millionen gibt der Kulturrat. Als Extrabonbon offerierte man eine auf die Erfordernisse des Balletts maßgeschneiderte Bühne. Das für zwölf Millionen Mark umgebaute Hippodrome zählt nun zu den modernsten und besten Balletthäusern der Welt. Hippodrome-Chef Peter Tod feierte den Ballett-Umzug dementsprechend als den „größten Coup des Jahrzehnts“.

Daß die Lokalpolitiker — die regierenden Labour-Abgeordneten wie die oppositionellen Torys — sich so generös zeigen, heißt nicht unbedingt, daß sie außerordentlich kunstvernarrt wären. Für sie stehen wirtschaftliche Erwägungen im Vordergrund. Die Grundidee der Kampagne: Wenn wir diese vermurkste Stadt an Investoren verkaufen wollen, dann müssen wir ihnen etwas bieten. Und deshalb brauchen wir ein erstklassiges Ballett, erstklassige Tanz- und Theaterensembles und ein erstklassiges Symphonieorchester.

Birmingham folgt mit dieser Kulturpolitik dem Beispiel Glasgows. Die ehemalige Kulturhauptstadt Europas hat mit ihren enormen Kulturinvestitionen gezeigt, daß ein hochklassiges Theater den Menschen so etwas wie „bürgerliche Würde“ geben kann, daß auch kleine Museen den Sonntagnachmittag verschönern und daß sich das alles irgendwann sogar ganz handfest mit neuen Arbeitsplätzen und erhöhten Steuereinnahmen auszahlen wird.

In Deutschland führt man diese Strategie seit Mitte der siebziger Jahre unter der Rubrik „Kultur als Imagepflege“. In England hingegen setzen viele Politiker Kulturförderung noch immer mit Verrat am nationalen Pragmatismus gleich. Ein Cricketfeld, ein Aquarium und ein Bücherbus — das reicht vielen englischen Provinzprinzipalen. „Die Engländer haben Kunst immer als etwas angesehen, was die Mittelschicht und die Oberklasse — und Kultur als etwas, was die Franzosen machen“, umreißt Simon Mundy von der „National Campaign for the Arts“ die englische Attitüde zu den Musen. Und Terry Hands, der im letzten Jahr seinen Posten als Künstlerischer Direktor der Royal Shakespeare Company aufgab, ergänzt resigniert: „Nach einer ganzen Lebenszeit im Theater muß ich mich noch immer mit Politikern über den Wert von Kultur unterhalten.“

Das finanzielle Loch, das die subventionsrenitente Tory-Regierung in den letzten zehn Jahren in das Kulturbudget riß, füllte Birmingham zum Teil mit privaten Geldern. Das Konferenzzentrum mit der Symphoniehalle finanzierte die Kommune gemeinsam mit der Handelskammer. 150 Millionen Mark gab die EG dazu. In drei bis vier Jahren, so hofft man, wird das ICC Gewinne abwerfen. Private Mäzene werden im britischen Kulturleben immer wichtiger. In Liverpool rettete ein Fußballimpresario das vom Stadtrat trockengelegte Playhouse, in Norwich baut ein lokaler Geschäftsmann sein eigenes Theater. Er wird dort auch selbst Regie führen. In Halifax pumpt Ernest Hall seine im Textil- und Immobiliengeschäft verdienten Millionen in die „Dean Clough Mill“. Die umfunktionierte Mühle beherbergt eine Galerie, ein Design Centre und die Bühne der „IOU“-Theatergruppe. Auch die Londoner „Compass“- Truppe siedelte sich in der Millionärsmühle an.

Die Dominanz der reichen Hauptstadt bröckelt zusehends: Die „Tate“ eröffnete Filialen in Liverpool, Norwich und St. Ives, das „Victoria & Albert Museum“ will mit Bradford kooperieren und das „Design Museum“ mit Halifax. Leeds hat das Wunder vollbracht, 40 Millionen Mark für das neue „West Yorkshire Playhouse“ aufzutreiben.

Die zentralistische Struktur des britischen Regierungssystems hat in den letzten Jahrzehnten London auf Kosten anderer Städte bevorzugt. Im Gegensatz dazu schufen in Deutschland der Föderalismus und die damit einhergehende Kulturhoheit der Länder die Grundlage für großzügig unterstützte Museen und Bühnen. (Nur kommunaler Ehrgeiz schafft Museumsknäuel wie das zwischen Düsseldorf, Köln und Mönchengladbach.) In Richtung Föderalismus geht auch die gerade durchgesetzte Reform des staatlichen Kulturrates. Elf regionale Kulturräte kümmern sich nun um die bisher aus der Hauptstadt dirigierten Theater und Opernhäuser. Der Londoner „Arts Council“ versorgt nur noch einen Bruchteil seiner ehemaligen Klienten. Einerseits bricht die Regionalisierung die Machtfülle der Zentrale, andererseits aber läuft eine solche Politik Gefahr, die zu delegierenden Bühnen an mehr oder weniger inkompetente und politisch motivierte kommunale Kulturverwalter auszuliefern. Einige Kritiker sprechen von einer „Auflösung“ des Kulturrates, und der Generalsekretär Luke Rittner verließ vor zwei Jahren wegen dieser Streitigkeiten seinen Posten.

Das jetzige Oberhaupt des Kulturrates, Peter Palumbo, gehört zu den großen Verfechtern der Dezentralisierung. Palumbo brütete auch die Idee der „Kulturstadt“ aus. Der Immobilienmillionär hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Briten etwas mehr Achtung vor Kunst und Kultur einzuflößen: „Ich glaube, daß wir ein sehr ansehnliches materielles Niveau erreicht haben. Und ich glaube auch, daß bei diesem Niveau des materiellen Wohlstandes im ganzen Lande ein Gegengewicht notwendig ist. Deshalb benötigen wir den spirituellen Faktor — und den können die Künste uns bieten. Wenn man die Nahrung für den Körper auf der einen Seite der Gleichung stehen hat, dann benötigt man Nahrung für die Seele auf der anderen Seite.“

Für seine These vom materiellen Wohlstand würde man Palumbo im Londoner Eastend, in Liverpool, Manchester und Leeds wahrscheinlich für unzurechnungsfähig erklären, dies aber tut seinem Enthusiasmus für die Künste keinen Abbruch.

Sollten die Beispiele Birmingham, Halifax und Glasgow Schule machen, so wird sich London auf Konkurrenz gefaßt machen müssen. Palumbos spirituelle Ausflüge und kommunales Selbstbewußtsein könnten das deprimierte Inselreich wieder etwas aufmuntern und eine kulturelle Renaissance der „Provinzen“ lancieren.

Gedenktafeln sind schnell gemeißelt. Und Dichter wie Southey gibt's in jeder Kleinstadt.