Die FIS geht „bis auf weiteres“ auf Tauchstation

Algeriens alt-neue Machthaber sagen zweiten Wahlgang ab/ Der „Hohe Sicherheitsrat“ — eine Militärjunta mit legalistischem Feigenblatt/ Islamisten bereiten sich auf den Untergrund vor und rufen zu Zurückhaltung auf  ■ Von Oliver Fahrni

Berlin (taz) — Das algerische Volk darf nicht wählen, wie es regiert werden will: Am Wochenende hat die Generalität in einem kalten Staatsstreich Präsident Chadli Bendjedid gestürzt und die ersten freien Parlamentswahlen abgebrochen. Die AlgerierInnen hatten sich im ersten Gang klar für die Islamische Heilsfront (FIS) entschieden. Der für Donnerstag angesetzte zweite Wahlgang wurde am späten Abend kurzerhand abgesagt.

Alle Macht liegt jetzt, wie schon im letzten Juni, beim „Hohen Sicherheitsrat“, formal ein Gremium, das den Präsidenten und den Regierungschef beraten soll, in Wirklichkeit aber eine Militärjunta um Verteidigungsminister Khaled Nezzar, dem starken Mann Algeriens. Im „Hohen Sicherheitsrat“ sitzen neben Nezzar, der Premierminister Sid Ahmed Ghozali, General Larbi Belkheir (Innenminister), General Abdelmalek Guenaizia (Generalstabschef) und — als konstitutionelles Feigenblatt — der Interimspräsident Abdelmalik Benhabylès.

Premier Ghozali ist eine Schlüsselfigur für die Militärs. In Frankreichs Eliteschule „Ponts et Chaussées“ geformt, später Chef der staatlichen Erdölgesellschaft, gilt der frühere EG-Botschafter und Außenminister als guter Ansprechpartner für westliche Regierungen und ideales Bindeglied zum IWF. „Wir sehen uns in der Unmöglichkeit“, so Ghozali am Sonntag, „den demokratischen Prozeß weiterzuführen.“

Die Annullierung der Wahlen, die Auflösung des FLN-Parlamentes und Chadlis Sturz sind nur die ersten Schritte einer umfassenden Strategie der Junta, wie gestern ein — französischer — Berater in einem „Off-Gespräch“ enthüllte. „Es wird keine Wahlen geben, bevor das Land wirtschaftlich stabilisiert ist. Wir denken über weitere Maßnahmen nach, wie ein Verbot der FIS, die Einschränkung der anderen Parteien etc., bis die Algerier die Sache im Griff haben. Die angekündigen Präsidentenwahlen werden nicht stattfinden. Das demokratische Experiment ist auf absehbare Zeit ausgesetzt.“

Oberst Chadlis Sturz offenbart tiefe Differenzen innerhalb des Regimes. Die Generäle, die Chadli 1979 ins Amt gebracht hatten, fürchten weniger die Islamische Republik als den Verlust ihrer wirtschaftlich dominierenden Position und ihrer Privilegien. „Wir werden den Stall ausmisten“, hatte FIS-Chef Mohamed Abassi Madani versprochen, bevor ihn die Militärs im Juni 1991 gefangensetzten. Chadli wird vorgeworfen, den demokratischen Prozeß zu weit getrieben zu haben. Der gestürzte Präsident war, so scheint es, zur „Kohabitation“ und zur Teilung der Macht mit den Islamisten bereit. Er hatte in den letzten Wochen geheime Kontakte zu den FIS-Führern aufgenommen.

Das kam den Islamisten entgegen. Ihnen war klar, daß sie, auch mit einer absoluten Mehrheit im Parlament, nicht gegen die Armee regieren könnten. Der Deal hätte, so sagte gestern ein FIS-Kader, in einer Koalitionsregierung bestanden. Chadli hätte ihm zu weit gehende FIS-Vorlagen kraft seiner umfassenden Befugnisse verhindern, die Islamisten dabei ihr Gesicht wahren können.

Zudem ging der Präsident vermutlich davon aus, daß sich die Islamisten bei der Lösung der akuten algerischen Wirtschafts- und Sozialprobleme verheddern oder zumindest abnutzen würden. Chadli suchte den Putsch letzte Woche zu verhindern, indem er die Militärs zum Gehorsam mahnte. Sie antworteten mit einem Ultimatum. Am Donnerstag verstärkten sie in einer langen Generalstabssitzung den Druck. Emissäre entrissen dem Präsidenten in letzter Minute die Demission.

Die islamischen Wahlsieger haben Sonntag nachdrücklich die Militärjunta „vor allen Maßnahmen“ gewarnt, die „darauf gerichtet sind, den Willen der Wähler zu hintertreiben“. „Majlis el-Shoura“, die kollegiale FIS-Führung, tagt an einem geheimen Ort ohne Unterbrechung. Kleine Gruppen von Islamisten schafften in der Nacht Akten, Adressenregister und Druckmaschinen aus den Parteilokalen in den Untergrund. In den Volksquartieren wie Bab-el-Oued bemühen sich die Islamisten, den spontanen Aufstand zu verhindern. Drei-Mann-Kommandos eilen von Haus zu Haus und mahnen die Militanten, „auf keine Provokation zu antworten“. Öfters werden sie dabei in harte Wortgefechte mit Jugendlichen und Revolutionären verwickelt, die glauben, das Regime sei über Massendemonstrationen und Straßenkampf zu stürzen. „Sie wollen“, sagte ein FIS-Mitarbeiter, „die Spannungen in der Armee und die Sympathien der unteren Offiziersränge für unsere Sache nutzen.“

Die FIS-Führung weiß, daß die Armee einen Vorwand sucht, die Organisation endgültig zu zerschlagen. Das wäre kein leichtes Unterfangen. Die Verhaftung der gesamten Führung, von 8.000 FIS-Kadern und 200 islamistischen Bürgermeistern im letzten Juni hat die Bewegung nicht gebrochen. „Bis auf weiteres“, faßt der FIS-Mann die Strategie zusammen, „sind wir auf Tauchstation. Wir haben viel Zeit. Wir werden geeignete Kampfformen finden. Und früher oder später wird sich das Regime dem Volksvotum stellen müssen. Dann werden wir wieder siegen.“