"Zersetzung" auch im Westen

■ Entgegen den Beteuerungen des Chefs der Stasi-Auslandsabteilung, Markus Wolf, war seine Elite-Abteilung doch in die Aktionen zur Unterdrückung der DDR-Opposition verstrickt. Das bestätigte gestern der 1983...

„Zersetzung“ auch im Westen Entgegen den Beteuerungen des Chefs der Stasi-Auslandsabteilung, Markus Wolf, war seine Elite-Abteilung doch in die Aktionen zur Unterdrückung der DDR-Opposition verstrickt. Das bestätigte gestern der 1983 abgeschobene Regimekritiker Roland Jahn nach einer ersten Durchsicht seiner „Akte“. Systematisch hat die Stasi versucht, Abgeschobenen auch im Westen ihre Existenz zu entziehen.

Der lange Arm der Stasi wirkte weit über die Grenzen der DDR hinaus auch in den Westen hinein. Nicht nur die Oppositionellen im ersten Arbeiter- und Bauernstaat wurden über Jahre bespitzelt, diffamiert oder „zersetzt“, wie im Stasi-Jargon die Vernichtung der Existenzen von unbotmäßigen Kritikern genannt wurde — die Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes richteten sich auch gegen jene, die von der greisen Politbürokratie gewaltsam aus der DDR entfernt und zwangsausgebürgert wurden. Nach der Öffnung der Stasi-Archive muß nun eine weitere Stasi-Legende zu Grabe getragen werden. Entgegen den vielfachen Beteuerungen des geheimnisumwitterten Geheimdienstchefs „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), Markus Wolf, wonach seine Eliteabteilung nie und nimmer in die Repression der DDR- Opposition verstrickt gewesen sein soll, fand der 1983 in den Westen abgeschobene Regimekritiker Roland Jahn schon bei der ersten Durchsicht seiner Akten eindeutige Belege dafür, wie die „Aufklärung“ im Schulterschluß mit der für die Unterdrückung des „politischen Untergrundes“ zuständigen Hauptabteilung XX „Zersetzungen“ konsequent verfolgte.

Roland Jahn, Mitglied des Jenaer Friedenskreises, war nach seiner Ausbürgerung im Juni 83 einer der maßgeblichen Personen, die den Kontakt zwischen DDR-Opposition und Gruppen in West-Berlin oder Westdeutschland aufrechterhielten. 26 Bände mit Stasi-Unterlagen konnte Roland Jahnn gestern bei der Gauck-Behörde einsehen. Im zentralen Operativ-Vorgang (ZOV) „Weinberg“ fand der 37jährige nun Hinweise darauf, wie gezielt gegen ihn Maßnahmen gerichtet und durchgeführt wurden. Belegt wird beispielsweise, wie die Stasi eine Rufmord-Kampagne anstiftete: So wurden 1987 in einer ersten Welle anonyme Briefe an die Alternative Liste in Berlin und an die Grünen in Westdeutschland verschickt. Mit einer Mischung aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Lügen wurde Jahn unter der Überschrift „Diener zweier Herren“ der Mitarbeit im BND beschuldigt, den Adressaten geraten, die Finger von ihm zu lassen. In einer zweiten Phase wurden enge Freunde in Jena angeschrieben — mit der Behauptung, der Ausgebürgerte Jahn würde sie im Westen diffamieren. Ein weiteres Schreiben sollte auch die Freunde abschrecken, die den Oppositionellen in der DDR Sympathie entgegenbrachten. Versandt wurde ein verfälschtes Deckblatt des Nachrichtenmagazins 'Spiegel‘, auf dem Jahn mit einem Tausendmarkschein abgebildet wurde — als Titelzeile dichtete die Stasi: „Roland Jahn und das Geschäft mit der DDR“.

Nicht genug, daß der Ruf des Ausgebürgerten systematisch zerstört werden sollte. Unter dem Namen „Aktion Keil“ starteten die Mitarbeiter der Hauptabteilung XX eine „Zersetzungaktion“, in die auch Mitarbeiter der HVA eingebunden waren. Eine der Maßnahmen war mit der Abteilung II der HVA (Kirchen, Parteien und Organisationen in der Bundesrepublik) abgestimmt. Verhindert werden sollte, daß Jahn eine Koordinationsstelle für die Ost-Kontakte bei der Bundestagsfraktion der Grünen antreten konnte. In die „Aktion Keil“ waren auch die Abteilungen X (Desinformation) und IX (gegnerische Dienste) eingebunden. Die Mitarbeiter wurden angewiesen, sämtliche Grünen-Veranstaltungen mit Roland Jahn zu observieren.

Nach Jahns Unterlagen reichte der Arm der Stasi tief ins linke Milieu. Detailliert wird etwa über eine Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der Alternativen Liste im Januar 1988 berichtet, bei der die Alternativen beschlossen, der Ostberliner Umweltbibliothek 4.000 Mark für eine Computeranlage zur Verfügung zu stellen.

Selbst Roland Jahn ist überrascht, welche Machtfülle die Stasi im Westteil Berlins entfalten konnte. Um einen der Treffpunkte zu überwachen, beschlossen die Stasi-Mitarbeiter kurzerhand eine „26 B“ genannte Maßnahme — das im Westen gelegene Café Einstein sollte den Unterlagen zufolge mit elektronischen Wanzen gespickt werden. Wieweit diese Maßnahmen umgesetzt wurden, läßt sich beim ersten Aktenstudium nicht feststellen.

Das besondere Augenmerk galt den Medien im Westen, in denen die Oppositionellen aus der DDR zu Wort kamen. Mitarbeiter von „Glasnost“, vom Alternativsender „Radio 100“ ausgestrahlt, oder die DDR- Berichterstattung der taz wurden nicht nur aufmerksam verfolgt; ausweislich der Stasi-Akten trachteten Mielkes Mitarbeiter ständig danach, Informationskanäle offenzulegen und abzukappen. Der Aufwand war gewaltig. Allein in den Akten Jahns sind etwa 25 „Inoffizielle Mitarbeiter“ geführt.

Viele Kontakte blieben dem Staatssicherheitsdienst dennoch verborgen. Aber auch wenn vieles falsch gewertet wurde, erklärte Jahn nach der Durchsicht seiner Akten, sei die Stasi durch das Zusammenspiel der Inoffiziellen in Ost und West „ganz gut informiert“ gewesen. Aus seiner Akte sei zu sehen: „West-Berlin lag mitten in der DDR“. Wolfgang Gast