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Tour d'Europe

■ Supranationale Kadis

Wer zwar Recht hat, aber zu Hause nicht bekommt, dem winken in Europa drei anerkannte supranationale Gerichte: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Die Institutionen gehen jeweils auf ein internationales Abkommen zurück. Der Internationale Gerichtshof (IGH) befaßt sich ausschließlich mit Völkerrechtsfragen. Theoretisch wäre der IGH auch ein Austragungsort für den Streit um das besetzte Kuwait gewesen. Der Konflikt verlagerte sich dann aber doch auf das Schlachtfeld, weil die Parteien gar nicht daran dachten, sich irgendeiner Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Diese Unterwerfung ist jedoch zwingende Voraussetzung für ein Verfahren in Den Haag. Denn der IGH ist in keinem Konflikt automatisch zuständig, er muß immer von beiden betroffenen Parteien angerufen werden — was nur sehr selten geschieht.

Häufiger landen Querelen da schon vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, einer Institution des Europarates. Dort können Einzelpersonen ihre Klagen über staatliche Einrichtungen loswerden, müssen sich allerdings auf lange Wartezeiten einstellen. 1991 urteilten die chronisch überlasteten Straßburger Richter über 230 Fälle. 174 Mal sprachen sie Regierungen und Behörden schuldig — am häufigsten wegen Mißbrauch von Polizei und Justiz.

Der größte Apparat ist der Europäische Gerichtshof der EG, im Beamtenjargon kurz „Eu- Ge-Ha“ genannt. Der 1958 aus der Kohle- und Stahlgemeinschaft mit in die EWG eingebrachte EuGH ist zuständig für Klagen, die die Zwölfergemeinschaft betreffen. Egal wer in der EG das ständig wachsende Paket europäischer Verordnungen und Richtlinien verletzt, muß sich auf ein Verfahren vor dem Luxemburger Kadi einstellen. Klagen können Regierungen, EG-Organe, nationale Gerichte, Unternehmen und Einzelpersonen. Die meisten Fälle werden dem EuGH von nationalen Gerichten vorgelegt. „Vorlegen“ müssen Gerichte dann in Luxemburg, wenn das nationale Recht im Widerspruch zum Europarecht steht. So klagte eine Engländerin, die früher als ein Mann pensioniert wurde, vor einem englischen Gericht auf Gleichstellung. Der Fall ging zum EuGH, das eine Verletzung des Gleichberechtigungsgrundsatzes feststellte. Das nationale Gericht mußte daraufhin entsprechend entscheiden. Aus Deutschland wären viele interessante Fälle für den EuGH denkbar: zum Beispiel eine Klage vor einem deutschen Gericht auf Lieferung von Trinkwasser, das den EG-Normen entspricht; oder die Klage eines künftigen lärm- und gestankgeplagten Anwohners einer Autobahntrasse, die nach dem Beschleunigungsgesetz gebaut werden soll. Dieser Mensch könnte vielleicht vor einem deutschen Gericht eine Umweltverträglichkeitsprüfung einfordern, die zwar laut „Beschleunigungsgesetz“ ausgelassen werden darf, in der EG jedoch vorgeschrieben ist. Bislang überhaupt nicht vor supranationalen Gerichten klagen können „Dritte“. Betroffen sind Verbraucherverbände und Umweltschutzgruppen. Ihnen beibt nur die Möglichkeit, symbolische Gerichte wie etwa das Amsterdamer Wassertribunal oder das italienische Lelio-Basso-Tribunal einzuberufen. dora

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