Rechtsstaatliches Netz unter Spannung

In Osteuropa sind die neuen Rechte und Freiheiten durch die Wirtschaftskrise bedroht/ Die „Transformationsperiode“ hat noch kein hinreichendes rechtliches Instrumentarium/ Das Verhältnis demokratischer und sozialer Grundrechte  ■ Von Christian Semler

Wir sind gewohnt, die Frage, ob in einem Land der Rechtsstaat beziehungsweise „due process of law“ herrschen, auf den Feldern des Verfassungs-, Verwaltungs- und des Strafrechts zu entscheiden. Dies unterstellt, ergibt sich für die ehemalige Sowjetunion und Südosteuropa einerseits, für Ostmitteleuropa andererseits, ein sehr uneinheitliches Bild. In Ungarn, Polen und der CSFR ist das uferlose politische Strafrecht mit seinen Generalklauseln beseitigt, die pathologischen Formen der Urteilsfindung mittels Telefonanruf aus der Parteizentrale gehören der Vergangenheit an. Die Geheimdienste unterliegen der parlamentarischen Kontrolle, die Bürger haben die Möglichkeit, gegenüber einer Reihe von Verwaltungsakten die Gerichte anzurufen. Dem Grundrechtsschutz verpflichtete Verfassungsgerichte haben die Arbeit aufgenommen, in Polen gibt es sogar eine sehr effektive Ombudsfrau, die Beschwerden aus der Bevölkerung wegen staatlicher Rechtsverletzungen aufnimmt. In Rußland läuft zeitverschoben der gleiche Prozeß der institutionellen Sicherung von Grundrechten ab, in Rumänien und Serbien ist er weitgehend blockiert. Alle Länder des ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereichs, auch Rußland selbst, hatten vor 1917 das römische Recht mit seiner starken Betonung der Rechte des Einzelnen aufgenommen. Wo allerdings die Trennung der öffentlichen, privaten und religiösen Sphären nur unvollkommen vollzogen war, wo, wie im feudalistischen Rußland, Eigentum an staatliche Funktionen geknüpft war, ist die Rechtskultur wie das Vertrauen auf den entstehenden Rechtsstaat schwach entwickelt. Gassan Gussejnow, geistvoller Kritiker des „homo sowjeticus“, hat eine Typologie konstanter Verhaltensweisen dieser Spezies entwickelt, zu der die Staatsfixiertheit, das „aggressive Nichthaben“ als Gleichheitspostulat ebenso gehören wie die Überzeugung, daß Macht stets vor Recht geht. Das hat Folgen für die Konzeption der Grundrechte ebenso wie für die der Rechtsbeziehungen in der Gesellschaft. Generell läßt sich sagen, daß der durch die französische Revolution begründete Grundrechtskatalog bei den Machteliten wie bei der Bevölkerung heute gleichermaßen „in der Theorie“ als Richtschnur akzeptiert werden. Weit komplizierter ist das Verhältnis zu den „sozialen Grundrechten“. In der Geschichte des realen Sozialismus wurden sie von den Herrschenden nicht ohne Erfolg gegen die angeblich nur abstrakten demokratischen Rechte ausgespielt. Das Recht auf Arbeit und Wohnung, zwar nicht einklagbar, aber immerhin Bestandteil realsozialistischer Grundrechtskataloge, wird jetzt zum Opfer der Transformation Richtung Marktwirtschaft. Während die neuen, demokratisch gewählten Machteliten keinen Zweifel daran lassen, daß eine verpflichtende Arbeitsplatzgarantie mit der Herstellung von Marktverhältnissen unvereinbar ist, wird das in der gewendeten Gewerkschaftsbewegung ganz anders gesehen. Zum Sicherheitsbedürfnis derer, die nur ihre Arbeits kraft zu Markte tragen können, gesellt sich vor allem in Rußland die Vorstellung, daß privater Reichtum stets illegitim zustande gekommen und deshalb eigentlich unanständig ist. Aber auch in Ostmitteleuropa droht der ursprüngliche Konsens über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit zu zerbrechen. 1981 hatte er im Solidarnosc- Programm über die selbstverwaltete Republik eine vorläufige Form gefunden. Heute aber hat in Polen die Arbeiterselbstverwaltung, ja selbst die Mitbestimmung als Instrument der sozialen Verteidigung, ausgespielt, die Gewerkschaften sind schwach, und die Unternehmer reizen ihre Überlegenheit voll aus. Damit ist nicht nur die Austragung von Klassenkämpfen innerhalb rechtlicher Regelungen gefährdet, sondern mit ihr auch der Rechtsstaat und die Demokratie. Beispiel Eigentumsverhältnisse: Zwar sind die Zivil- und Handelsgesetzbücher, die in rudimentärer Form unter dem Realsozialismus zuweilen fortbestanden haben, im ursprünglichen Umfang wieder in Kraft gesetzt, es fehlt aber ein Gesellschaftsrecht, mit dessen Hilfe die Privatisierung der Staatsbetriebe vorangetrieben und ein Ausgleich zwischen den Interessen künftiger Investoren, der Belegschaften und des Steuerzahlers herbeigeführt werden könnte. Das Steuerrecht ist gleichzeitig unflexibel und willkürlich. Weder zwingt es die Staatsbetriebe auf die Bahn der Rationalisierung noch begünstigt es hinreichend die privaten Klein- und Mittelbetriebe. Steuerhinterziehung und Zollvergehen begleiten ebenso die „ursprüngliche Akkumulation“ wie die massenhafte, immer besser organisierte Bandenkriminalität, Diebstahl, Erpressung und Raub. Diese Faktoren der Gesetzlosigkeit drohen mit der sich vertiefenden Wirtschaftskrise das nach 1989 geknüpfte rechtsstaatliche Netz zu zerreißen.