Kurzer Schmerz und ewige Freude

■ Anselm Weber inszeniert Schillers „Jungfrau von Orléans“

Alles nur ein Traum, oder was? Gar nicht wahr, was da drei Stunmden lang vor unseren Augen passiert ist. Da kommt doch am Ende dieses Abends Schiller selbst noch auf die Bühne, kritzelt mit dem Gänsekiel den Schluß seines Dramas aufs Papier, liest sich die Sätze vor und geht hinüber zu Johanna, die dort auf ihrem Stuhl sitzt. Zärtlich fährt er seiner Johanna übers Haar, umfaßt ihren Hals — und erwürgt sie. „Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude“; Johannas letzten Satz spricht Schiller selbst für sie, oder umgekehrt: Sie spricht durch ihn.

Diese Johanna ist ein Geschöpf des Dichters. Während die wahre Jeanne d'Arc den Engländern ausgeliefert und in einem manipulierten Politprozeß in Rouen als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde, stirbt sie bei Schiller ehrenvoll im Kampf. Im Drama ist sie zu diesem Zeitpunkt schon rehabilitiert — in Wahrheit kam es erst 25 Jahre nach ihrer Verbrennung zur Ehrenrettung.

Regisseur Anselm Weber hat Schillers Text auf knapp drei Stunden zusammengestrichen. Er nimmt dem Drama Längen — und Tiefe. Auf der ganz mit Kies gefüllten Bühne des Kammerspiels, umgeben von rotgetünchten Wänden, die an das Innere eines Bunkers erinnern, auf diesem unter jedem Schritt knirschenden Schlachtfeld, ist einzig Johanna mehr als eine Reduktion. Sie ist Kind und Frau, ist Heilige und Verführte, Lichtgestalt und Schuldige — gleichzeitig. Judith Engels Johanna ist beinahe unheimlich präsent: Wie diese kindliche Jungfrau sich wandelt von der Schäferin im Sackkleid zur Anführerin des Heeres; wie sie, breitbeinig auf der Bühne sitzend, ihre Kampfeskleider aus dem Kies zieht; wie sie mit fröhlicher Stimme „Du bist des Tooodes“ ruft, als habe sie beim Versteckspiel bis zehn gezählt und kündige nun „Ich kooome“ an. Noch der kleinste Auftritt gelingt der Engel so wunderbar — naiv zunächst, zerrissen am Ende —, daß man sich ihr nicht entziehen kann.

Dagegen bleiben die anderen Figuren seltsam blaß — nicht, weil sie schlechter besetzt wären, sondern weil Weber es so will. König Karl (Jörg Pose) etwa ist nur noch die Karikatur eines Herrschers: ängstlich, verantwortungslos, dem schönen Leben zugetan, ein Nichtsnutz im langen Mantel und Geckenschal. Sein Untergebener Dubois (Heiner Take): ein Schönling mit kampfeswillig aufgekrempelten Ärmeln, immer irgendeine Waffe zur Hand. Oder Agnes Sorel (Friederike Kammer), die Geliebte des Königs: ein aufgetakeltes Luxusweibchen, das zwar seinen Schmuck herschenken will, um die Soldaten zu entlohnen, doch nur zu dem Zwecke, daß ihr Herzblatt Karl nun endlich gekrönt wird. Weber neigt dazu, aus Charakteren Masken zu machen: Wer einmal ist, wie er ist, der bleibt, wie er ist.

Daß der Aufstieg Johannas zur Heldin sich vergleichsweise gemächlich vollzieht, ihre Verstoßung in einer auch auf der Bühne rasanten Geschwindigkeit vor sich geht, das leuchtet in Analogie zur historischen Wahrheit noch ein. Doch auch hier steht eine Kinoästhetik im Hintergrund, die die schnellen Schnitte braucht, um zu unterhalten. An vielen Stellen der Inszenierung wirkt diese Anlehnung an den Film dramaturgisch unmotiviert: Der englische Feldherr Talbot (Peter Lerchbaumer) versucht, seine vor Johanna fliehenden Krieger in einer Schlägerei aufzuhalten, die jedem Spaghetti- Western zur Ehre gereichte. Und der Walliser Montgomery (Ralf Beckord) versinkt effektvoll im Kies wie in einem Sumpf, und man fühlt sich, als sei man live bei Indiana Jones dabei. Dazu kommt eine Soße aus Musik, die die Inszenierung fast von Anfang an überzieht.

In diesem Film auf der Bühne gibt es indes auch Bilder, die mehr sind als Unterhaltung um der Unterhaltung willen. Kurz bevor Johanna verstoßen wird, läßt Weber auf der Bühne eine (Alp-)Traumsequenz vorbeiziehen: Johanna, die, mit der Tricolore in der Hand, als Freiheit das Volk führt, wie auf dem Gemälde von Eugène Delacroix. Johanna als Jungfrau Maria. Johanna im Büßergewand. Dunkle Gestalten huschen über die Bühne. Lichter blitzen auf. In wenigen Sekunden nur scheint hier auf, was diese Johanna war und ist — weniger in der Realität als in der Projektion der Nachgeborenen.

Wer im Theater unterhalten sein möchte, ist bei Weber gut aufgehoben. Selten war Schillers Jungfrau von Orléans so kurzweilig. Allerdings: Die Auseinandersetzung mit dem Stück kommt über weite Strecken zu kurz. Vielleicht hat Weber einfach den letzten Satz der Tragödie falsch verstanden. Danach soll ja der Schmerz kurz und die Freude ewig sein. Jörg Rheinländer

Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orléans. Regie: Anselm Weber. Bühne: Raimund Bauer, Musik: Tom van der Geld. Mit Johanna Engel, Jörg Pose, Heiner Take, Friederike Kammer. Kammerspiel Frankfurt. Nächste Aufführungen: 15., 19., 24., 27. und 30.Januar.