Offener Brief

■ an Otto Schily, Bonn

an Otto Schily, Bonn

Sehr geehrter Herr Schily, im Zusammenhang mit dem Dresdener Wahlfälscherprozeß haben Sie öffentlich erklärt, daß die Tat Ihres Mandanten Wolfgang Berghofer „kein schützenswertes Gut“ verletzt habe, da die Wahlen in der alten DDR keine richtigen Wahlen gewesen seien. April, April, also. Oder, wie Sie sagten: „Was falsch ist, kann man nicht fälschen.“ Sofern es dann nicht als echt ausgegeben wird, vergaßen Sie hinzuzufügen, denn sollte zum Beispiel ein Geldfälscher straffrei ausgehen, nur weil schon seine Vorlagen Blüten waren?

Aber mehr als diese Oberflächlichkeit ärgert mich Ihr Desinteresse am Rechtsanspruch der Wähler auf Strafverfolgung des damaligen Betruges. Es ging ja nicht um nichts. Nach den ersten freien Wahlen in der Sowjetunion stellt die DDR-Kommunalwahl eine bis dahin undenkbare Demonstration der Zivilcourage dar. Weniger der politische als vielmehr der rechtliche Ansatz der Opposition hat dazu verholfen. Denn nirgends war deutlicher erfahrbar, als beim üblichen Wahlablauf, wie willkürlich und gesetzlos die staatliche Macht ausgeübt wurde. Nötigung und Benachteiligung trafen jene, die nichts anderes taten, als ihre im Wahlgesetz verbrieften Rechte wahrzunehmen. Nichtwähler, Kabinenbenutzer, Nein-Stimmen-Produzenten (durch umständliches Durchstreichen jedes einzelnen Namens auf dem Wahlzettel) und kritische Auszählungszeugen in den Wahllokalen. Durch Flugschriften oder über Westradio und -fernsehen verbreiteten oppositionelle Gruppen Informationen über diese Wählerrechte und forderten auf, sie diesmal bewußt wahrzunehmen. Damit brachten sie am 7.Mai 1989 so etwas wie eine erste Bürgerbewegung zustande. Bis zu 20 Prozent der Wähler in den großen Städten sind nach alternativen Auszählungen nicht mehr einfach „falten gegangen“, sondern haben die Wahl boykottiert oder mit Nein gestimmt.

Im Westen hätte das für die Regierungspartei nichts zu bedeuten gehabt, aber angesichts des Anspruchs der SED-geführten Nationalen Front, in ihrer Einheitsliste alle gesellschaftlichen Interessengruppen zu vertreten, war das eine eklatante Niederlage. Denn die Schlußfolgerung war klar: So viele Menschen „haben keine politische Vertretung in der Gesellschaft“ (Gründungsaufruf der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt vom 12.9.89). Folglich brauchten sie eine andere, was die Zulassung oppositioneller Organisationen erforderlich macht. Das Eingeständnis des wahren Ergebnisses hätte das politische System grundsätzlich infragegestellt und damit stand die Partei vor dem Dilemma, eben das zuzugeben oder aber gegen den Paragraphen 211 StGB der DDR zu verstoßen, der Wahlfälschung unter Strafe stellt und mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bedroht. Sie hat das Letztere gewählt, weil sie die Konsequenzen nicht ernst nahm. Daß das nötig war, zeigt, daß diese Wahl eine echte Entscheidung gebracht hat und ihr reales Ergebnis durchaus ein „schützenswertes Gut“ darstellt. Jeder, der im Sinne der oppositionellen Aufrufe an seinem Zustandekommen mitgewirkt hat, war sich dessen bewußt und nahm dafür einiges in Kauf.

[...] Später wurde durch Untergrunddokumentationen („Wahlfall“) klipp und klar belegt, daß von Krenz abwärts nach DDR-Recht straffällige Betrüger das runde Fünftel aufgeweckter Wahlberechtigter um das Ergebnis ihres Mutes zu bringen versuchten. So entstand ein neuer Schub des Widerstands — auf der Basis des geltenden Rechtes. Und das soll nun Ihrer Meinung nach alles nichts gewesen sein, weil dieses Recht nicht ernstzunehmen war?

Was veranlaßt Sie eigentlich, uns nachträglich auch noch dieses bißchen Recht abzusprechen, das wir zum Widerstand gegen die Herrschenden nutzen konnten? Soll es Ihrer Rechtsauffassung nach den Herren Krenz, Krack, Berghofer und Co. ernstlich zugutekommen, daß sie, weil sie die Macht hatten, auch noch bedenkenlos die eigenen Gesetze brachen? Wollen Sie den Paragraphen 211 StGB der DDR etwa den zu Recht rückwirkend getilgten politischen Strafrechtsparagraphen beigesellen, um die Täter vollends als Opfer darzustellen (wessen eigentlich: der bösen Oppositionellen, die sie, weil in der DDR nun mal die SED herrschen mußte, zum Schwindeln gezwungen haben?)?

Wenn Sie auch nur ein wenig an die betroffenen Wähler denken, dann sollten Sie die Verteidigung Ihres Mandanten nicht weiter mit der Infragestellung der Strafwürdigkeit von Wahlfälschungen in der DDR betreiben. Reinhard Lampe, Pfarrer und Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt,

Dorf Zechlin