GASTKOMMENTAR
: Verschlossene Türen oder Öffentlichkeit

■ Endet die Verfassungsdebatte im Grabenkampf?

Es gab die Hoffnung, daß der Prozeß der Vereinigung Deutschlands von einer breiten Debatte über die verfassungsrechtlichen Grundlagen des neuen Gemeinwesens begleitet wird. Heute ist zu befürchten, daß eine solche Diskussion im parlamentarischen Grabenkrieg versandet.

Am Donnerstag tritt in Bonn zum ersten Mal die „Gemeinsame Verfassungskommission“ zusammen: 32 Bundestagsabgeordnete und 32 Mitglieder des Bundesrates. Diese Kommission ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Die SPD konnte sich mit der Forderung nach einem „Verfassungsrat“ (mit weitgehenden verfassungsrechtlichen Befugnissen) nicht durchsetzen. Die Union mußte einsehen, daß eine Verfassungsdebatte nicht einfach abgeblockt und durch die von ihr gewünschten Veränderungen des Grundgesetzes ersetzt werden konnte, z.B. durch Einschränkung des Asylrechts und durch neue Befugnisse zum Einsatz der Bundeswehr.

In der Verfassungskommission sind beide politische Lager gleich stark. Deshalb wurde die Kommission an die Leine gelegt. Sie kann Beschlüsse nur mit Zweidrittelmehrheit fassen. Es gilt die Geschäftsordnung des Bundestages. Es ist nicht vorgesehen, daß die Kommission nur öffentlich tagt. Das wäre bei den wichtigen Fragen, um die es geht, geboten. Es kommt für die Zukunft darauf an, ob die Kommission öffentlich tagt, ob sie öffentliche Anhörungen durchführt und Petitionen berücksichtigt.

Verschlossene Türen oder Öffentlichkeit. An dieser Frage entscheidet sich, ob es eine Verfassungsdebatte und damit ein erneutes Grundgesetz gibt oder nicht. Die einen fürchten Öffentlichkeit, suchen Vereinbarungen. Sie brauchen den politischen Handel. Die anderen brauchen Öffentlichkeit. Es wird sich zeigen, ob die Befürworter einer Verfassungsdebatte stark genug sind, Öffentlichkeit herzustellen oder wenigstens das öffentlich zu machen, was verhandelt wird. Ohne Öffentlichkeit gibt es nicht die Unterstützung derjenigen, die ohne ökologische Verfahrensrechte die ökologische Katastrophe befürchten, die sich größere Sicherheit von sozialen Rechten im Grundgesetz versprechen, die erwarten, daß ein erneutes Grundgesetz die rechtliche Stellung der Frauen verbessert, das Übergewicht der Exekutive gegenüber der Legislative aufhebt und eine größere Beteiligung des Volkes ermöglicht.

Dieser Streit um Öffentlichkeit macht erneut bewußt, daß Verfassungsfragen immer auch Machtfragen sind. Jürgen Seifert

Der Autor, Verfassungsrechtler und Politologe, war von 1983-87 Bundesvorsitzender der Humanistischen Union.