Auf der Suche nach einem Ariadnefaden

■ Der Ostberliner Schriftsteller Rainer Schedlinski beschreibt in der 'FAZ‘ die Motive für seine Stasi-Mitarbeit

Berlin (taz) — Verschiedentlich glaubte er, den Ariadnefaden aus dem Stasi-Labyrinth gefunden zu haben: Er wurde psychisch krank, er versuchte, der Stasi als unsicherer Kandidat zu erscheinen, und meinte schließlich, durch seine Arbeit in der Oppositionszeitschrift 'Ariadnefabrik‘ für die Stasi untragbar zu werden. „Freilich hat die Stasi mich in dieser intellektuell verklärten Motivation genauso benutzt wie vordem als verängstigten Psychopathen“, schreibt der Schriftsteller Rainer Schedlinski in der 'FAZ‘, wo er sich erstmals öffentlich zu seiner Arbeit für den DDR-Geheimdienst äußert. Daß er in solchen Formulierungen übersieht, daß er selbst Teil der Krake war, ist Ausdruck der ganzen Widersprüchlichkeit, in der sich Schedlinski heute selbst darstellt.

„Weil ich aus diesen Vernehmungszimmern nur noch rauswollte, und weil ich glaubte, die Haft nicht zu überstehen, schrieb ich die Verpflichtungserklärung.“ Das war Mitte der 70er Jahre. Schedlinski hatte nach eigenen Angaben einen anonymen Brief in seinem Briefkasten gefunden, den er an einen Freund seines in den Westen abgeschobenen Bruders weitergab. Die Stasi holte ihn ab und drohte mit zehn Jahren Gefängnis — für Kurierdienste zugunsten eines Fluchthilfeunternehmens. Ein Jahr später stand der verhörende Offizier vor seiner Tür „mit einem Päckchen Kaffee... und redete völlig unverbindlich über den Klassenfeind und den Arbeiter- und Bauern-Staat“. Damals erschien Schedlinski die Stasi wie eine „Art Fürsorgeeinrichtung für junge gestrauchelte Leute“, und er hatte „keine Schuldgefühle, diese Leute zu kennen“.

Aber als er dann über Ausstellungen und Lesungen in der Wohnung eines Freundes berichten sollte, „geriet ich das erste Mal deutlich in einen Vertrauenskonflikt meinen Freunden gegenüber“. Von da ab verliert für Schedlinski sein Tun die Eindeutigkeit, und er verstrickt sich in ein Knäuel von Begehrlichkeiten der Stasi, eigenen Ängsten und Souveränitätsvorstellungen: Opfer und Täter in einem, versucht er sich durchzulavieren. Mal will er seinem Führungsoffizier die Veranstaltungen seiner Freunde als unpolitisch verkaufen, dann fühlt er sich dermaßen an die Wand gedrückt, daß er sich in psychiatrische Behandlung begibt. Der Versuch, in einer Gruppentherapie über sein Doppelleben zu erzählen, sei von der Psychologin abgeblockt worden. Schließlich habe er versucht, das Gerücht über seine Spitzeltätigkeit selbst zu pflegen, um den Vertrauenskonflikt mit seinen Freunden zu mildern, und seit 1985 wollte er, „wenn ich ihnen schon nicht entgehen kann, (...) die Spielregeln mitbestimmen“.

Seit er am Prenzlberg in Ost-Berlin Fuß gefaßt hatte, versuchte er nach eigenen Angaben die Informationen zu dosieren, die er an Mielkes Stab weitergab. „Ich redete über nichts, von dem ich befürchten mußte, daß es jemanden in Gefahr brächte“, behauptet Schedlinski. Die Angst als Motiv für die Zusammenarbeit geht bei ihm jetzt immer mehr in die Vorstellung über, daß nur seine Spitzeldienste einen gewissen Freiraum am Prenzlberg garantieren könnten. „Ich wollte vermitteln und ermöglichen, was es sonst nicht gegeben hätte.“ Der Ostberliner Lyriker Jan Faktor erinnert Rainer Schedlinski als einen Mann, der die Menschen nicht anschauen konnte: „Er hatte die Schuld in den Augen.“ Ihm erscheint heute auch der Titel seines Werkes Die Arroganz der Ohnmacht bezeichnend.

Die Stasi reagierte offenbar flexibel auf ihren Informellen Mitarbeiter. Anfangs drohte sie ihm immer wieder mit einem Fluchthilfeverfahren und Knast. Später kaufte sie Schedlinski die Untergrundzeitschriften 'Schaden‘ und 'Ariadnefabrik‘ ab, in deren jeweils 20 bis 50 Exemplaren Kunst und kunstkritische Beiträge abgedruckt waren. „Ich hielt es sogar für clever, für jedes Heft, das die Stasi haben wollte, dreihundert Mark zu verlangen... Das Geld steckte ich wieder in die Produktion und die Anschaffung von Computer und Drucker“, beschreibt Schedlinski den Interessenkreislauf. Die Möglichkeit, die Akten bei der Gauck-Behörde einzusehen, brachte Schedlinskis Stasi-Mitarbeit an den Tag. Seinem besten Freund Detlef Opitz hatte er noch kurz vor Weihnachten in einem Gespräch unter vier Augen versichert, er habe nichts mit der Stasi zu tun gehabt. Opitz brach zusammen, als er jetzt die Wahrheit erfuhr — und fuhr anschließend mit seinem Freund aufs Land, um zu reden. Der Anfang eines Ariadnefadens? Annette Jensen