»Demos sind anstrengender als Unterricht«

■ Interview mit dem Landesschülervertreter Thymian Bussemer zu den großen Schülerprotestaktionen beim Ausbruch des Golfkriegs vor einem Jahr/ »Viele fingen an, sich mit globalen politischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen«

Die Landesschülervertretung vertritt die Schülerinnen und Schüler der rund 300 Oberschulen in der Stadt. Zu Beginn des Golfkrieges am 16. Januar 1991 hatte die Organisation zu zahlreichen Protestaktionen aufgerufen. Der 19jährige Abiturient Thymian Bussemer zieht als einer von drei Vorsitzenden der Landesschülervertretung ein Jahr später in einem Gespräch mit der taz Bilanz.

taz: Die Alliierten hatten im Januar vor einem Jahr kaum ihre ersten Bomben über dem Irak abgeworfen, da waren die Berliner Schüler schon auf der Straße. Wie kam es so schnell dazu?

Thymian Bussemer: Die Landesschülervertretung und viele Schülerzusammenschlüsse hatten vorher Aufrufe verfaßt, am Morgen nach Kriegsbeginn den Untericht zu boykottieren und zum Wittenbergplatz zu kommen. Aber wir waren am 16. Januar selbst überrascht, welche Massen von Schülern dort plötzlich auftauchten. An diesem Morgen waren es an die 10.000 Schüler, die den Unterricht boykottierten und demonstrierten. Das hat sich in den zwei folgenden Tagen so weiterentwickelt, daß rund 35.000 Schüler auf der Straße waren. Dies war eine Initialzündung für andere friedensbewegte Leute, auch etwas zu tun. Wenn ich daran erinnern darf: In den Wochen vor Kriegsbeginn, vor dem Ablauf des UN-Ultimatums waren die Menschen vor lauter Kriegsangst ja richtig gelähmt. Sie saßen vor den Fernsehern und entwickelten kollektive Ohnmachtsgefühle.

Bei den Demonstrationen liefen viele zum Teil sehr junge Schüler mit, die vorher noch nie politisch aktiv, geschweige denn auf einer Demo waren.

Die Teilnahme an den Demos war nicht primär politisch motiviert, es ging mehr um den Umgang mit den eigenen Emotionen. Gerade für jüngere Schüler war die Angst vor dem Krieg ein großes Problem. Die Aktionen hatten aber eine enorm politisierende Wirkung.

In welche Richtung politisierend?

Viele Schüler haben angefangen, sich mit globalen politischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen. Sie haben gemerkt, daß es möglich ist, als Massenbewegung Einfluß auf das zu nehmen, was die Herrschenden treiben.

Du glaubst doch nicht etwa, daß ihr den Verlauf des Krieges beeinflußt habt?

Wir haben einige Wochen lang, über das Bestehen der Protestbewegung hinaus auf die Diskussion in der Bundesrepublik einen ganz entscheidenden Einfluß gehabt. Die sehr vehement geführte Diskussion über eine Änderung des Grundgesetzes, zu Gunsten eines Bundeswehreinsatzes außerhalb des Nato-Gebietes wäre überhaupt nicht denkbar gewesen, ohne die durch die Proteste der Jugendlichen begründete Friedensbewegung. Auch wenn man an die internationalen Vorwürfe denkt, die gegenüber Deutschland erhoben wurden, wird klar, daß die hiesige Friedensbewegung einen großen Einfluß auf das Bild hatte, daß von der Bundesrepublik in anderen Ländern vermittelt wurde.

Die Friedensbewegung wurde damals von vielen Seiten heftig angegriffen. Ihr wurde einseitige Parteinahme für den Irak durch Ausblendung der Gefahr für Israel vorgeworfen. Ein verhementer Kritiker war Wolf Biermann. Was hast du von solchen Stimmen gehalten?

Auch ich habe das Waffenpotenial des Irak als Bedrohung empfunden. Ich meine, daß man gerade als Deutscher alles tun muß, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Insofern war Biermanns Forderung nach Vernichtung der irakischen Kernwaffen legitim. Schlimm fand ich aber Biermanns Kriegstreiberei. Wir Schüler haben dagegen grundsätzlich eine pazifistische Position vertreten. Uns ging es darum, eine politische Lösung der Probleme am Golf zu erzielen: die Befreiung Kuwaits, eine palästinensisch-israelische Friedenskonferenz, die Entschärfung des irakischen Waffenpotentials. Damit ist auch klargeworden, daß die friedensbewegten Schüler durchaus für die Sicherheit Israels eingetreten sind. Wie sich jetzt gezeigt hat, hat die militärische Niederlage nicht zwangsläufig dazu geführt, daß im Irak abgerüstet wurde. Im Gegenteil, die USA und ihre Verbündeten konsolidieren im Interesse der Gesamtstabilität in der Region das irakische Regime.

Manche Rektoren haben sehr empfindlich auf den Unterrichtsboykott reagiert. Hatte das später noch Folgen?

An einzelnen Schulen hat es Versuche gegeben, gegen Schüler die an der Organisation beteiligt waren, Disziplinarmaßnahmen zu verhängen. Das hat sich aber in einem sehr kleinen Rahmen gehalten. Das lag wohl auch daran, daß es einen verhältnismäßig breiten Konsens über die Notwendigkeit von Friedensaktionen gab.

Die Protestaktionen klangen bereits nach zwei bis drei Wochen ab, obwohl der Krieg noch nicht zu Ende war. Woran lag das?

Das lag sicher daran, daß der Krieg anders verlaufen ist, als es viele Leute erwartet haben. Das große Vietnam-Debakel der USA hat sich beileibe nicht wiederholt, sondern die Kriegsführung war verhältnismäßig effizient, obwohl der Krieg sehr grausam war. Der zweite Grund ist sicher, daß die enorme Energie, die zu so einer Bewegung gehört, schnell wieder verpufft.

Ist von der Bewegung etwas übriggeblieben?

Geblieben ist ein verändertes politisches Bewußtsein bei vielen Schülern und eine stärkere Sensiblität für die Vorgänge im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Auch die israelisch-palästinensischen Gespräche werden mit einer größeren Aufmerksamkeit, auch im Unterricht, verfolgt.

Warum hat es keine Schülerdemonstration gegen den Krieg in Jugoslawien gegeben?

Die Bedrohung wird anders empfunden als beim Golfkrieg, obwohl sich der Bürgerkrieg in Jugoslawien in Europa abspielt.

Was meinst du damit?

Einerseits liegt es wohl daran, daß wir zu den USA eine sehr starke Affinität haben. Wenn sich die USA in eine riesige kriegerische Auseinandersetzung verwickeln, vermittelt uns dies viel eher das Gefühl, daß wir da ganz schnell mit hineinrutschen könnten. Außerdem glaube ich, daß die Energie für größere Protestveranstaltungen nur alle paar Jahre da sein kann, 1987 hatten wir die Auseinandersetzung um die Abi-Reform, die Reformierung der gymnasialen Oberstufe. Danach war zwei Jahre Ruhe bis zum Uni-Streik 1989. Manche Leute werden es nicht glauben, aber demonstrieren ist um einiges anstrengender als Unterricht. Das läßt sich auf Dauer nicht durchhalten. Das soll keine Entschuldigung sein. Aus meiner Sicht müßte unbedingt etwas gegen den Krieg in Jugoslawien getan werden.

Womit beschäftigt sich der Landesschülerausschuß im Moment politisch?

Abgesehen davon, daß wir durch die Abi-Klausuren in zwei Wochen etwas lahmgelegt sind, versuchen wir uns mit dem Thema Wehrpflicht auseinanderzusetzen. Das ist sehr schwierig, weil einem niemand sagen kann, wer wann wie erfaßt und gemustert wird. Wir versuchen den Schülern, die extrem verunsichert sind, Informationsmaterial zu geben. Langfristig soll auch eine Beratungsstelle aufgebaut werden. Interview: Plutonia Plarre