Das Schlimmste ist die Einsamkeit

■ Ein Besuch in der Wohngruppe des Kinderschutz-Zentrums

Berlin. Auf den ersten Blick ist der Fassade nicht anzusehen, welche Not die altehrwürdige Villa beherbergt. Vor elf Jahren entstand auf Initiative des Kinderschutz- Zentrums in dem Steglitzer Gebäude eine Zuflucht für Kinder: mißhandelte, sexuell mißbrauchte, vernachlässigte Kinder. Ob grün und blau geschlagen, vergewaltigt, halb verhungert oder einfach »nur« verhaltensauffällig und ungewöhnlich schwierig — hier sollen die Kinder für einige Monate zur Ruhe kommen, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben ein Stück weit Geborgenheit erfahren.

Gleich nachdem ich das Haus betreten habe, bin ich von einer Schar von Kindern umringt. Eine Dreijährige trommelt mit ihren Fäusten auf mich ein, beißt sich dann in meinem Jackenärmel fest. Weil ich sie nicht an den Zähnen hinter mir herziehen will, nehme ich sie auf den Arm. »Ein schwerer Fall von Vernachlässigung«, erklärt mir Jutta Wenker, eine der Betreuerinnen später. Für sie sind das die schlimmsten Fälle. »An die kommen wir kaum ran«, sagt sie, »die sind in der Regel völlig gestört.« Auch die Arbeit mit mißhandelten und mißbrauchten Kindern (letztere machen ein bis zwei Drittel der jeweiligen Gruppe aus) ist schwierig. Denn die Kinder inszenieren in der Wohngruppe das, was sie zu Hause erlebt haben. Da bieten sich kleine Mädchen oder Jungen den Erziehern als Sexualobjekte an, fassen den ErzieherInnen an die Genitalien, richten ihre (auch sexuellen) Aggressionen gegen schwächere Kinder. »Wichtig ist«, so Jutta Wenker, »den Kindern klarzumachen, daß wir sie akzeptieren, obwohl sie schwierig und anstrengend sind und daß wir anders auf ihr Verhalten reagieren, als sie es von zu Hause gewohnt sind.« Das Bemühen der sechs BetreuerInnen, von denen die meisten ausgebildete PsychologInnen sind, richtet sich meist erst einmal darauf, den Kindern einige grundlegende Fähigkeiten zu vermitteln. Die meisten der hier abgelieferten Kinder können weder eigene Bedürfnisse ausdrücken beziehungsweise wahrnehmen, noch eigene Grenzen ziehen. Bei manchen ist das Ich-Bewußtsein sogar derart mangelhaft ausgeprägt, daß sie noch nicht einmal die Grenzen ihres eigenen Körpers wahrnehmen können. Über den Grad der Zerstörungen sind die MitarbeiterInnen bisweilen selbst erschrocken. »Seit ich hier arbeite«, sagt Jutta Wenker, »habe ich den Glauben an die heile Familie verloren.«

Trotzdem wird, gemeinsam mit dem Kinderschutz- Zentrum, wenn möglich, mit den Familien zusammengearbeitet. Dies ist laut Jutta Wenker, schon deshalb sinnvoll, weil die Kinder in der Regel auch noch glauben, an der Trennung Schuld zu sein. »Wenn wir die Eltern dazu bringen können, vor den Kindern die Verantwortung für das, was passiert ist, zu übernehmen, ist das für die Kinder eine große Erleichterung«, erklärt die Psychologin. Häufig laden auch die Eltern selber ihre Kinder in der Wohngruppe ab, weil sie mit ihnen nicht zurechtkommen. Gehen manche der Eltern noch dumm-naiv von »einem schlechten Kern im Kind« aus, tun sich für die BetreuerInnen der Wohngruppe während der Arbeit mit dem Kind dann meist die Abgründe einer pervertierten Erziehung auf. Die meisten Kinder der Wohngruppe kommen von dort aus nicht zu ihren Eltern zurück, sondern werden in Heimen untergebracht. Nur bei weniger schweren Mißhandlungsfällen, in denen Gespräche mit den Eltern Fortschritte erkennen lassen und bei Mißbrauchsfällen, in denen sich die Mutter überzeugend vom Täter trennt, wird manchmal von der Wohngruppe aus eine Rückführung versucht. Trotz aller Beratungsgespräche mit den Eltern bleibt stets ein Restrisiko. So räumt denn auch Jutta Wenker ein, daß sie bei vielen Kindern, die zurück nach Hause kommen, ein schlechtes Gefühl habe. Denn die Gefahr, daß auch schlagende Eltern, die, in der Regel selbst hilflos, ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf die Kinder projizieren, rückfällig werden, ist groß. Und spätestens, wenn Vati das nächstemal besoffen nach Hause kommt, nutzen vielleicht alle guten Vorsätze nichts mehr. Die Kinder selbst sehnen sich nach der Zuwendung ihrer Eltern. Fast alle Kinder im Haus vermissen ihre Eltern — auch wenn diese ihnen, objektiv betrachtet, kaum jemals etwas Gutes getan haben. »Das Schlimmste«, sagt Jutta Wenker, »ist die völlige innere Einsamkeit der Kinder.« Sonja Schock