Im Mittelpunkt der Hilfe steht das mißbrauchte Opfer

■ Sexueller Mißbrauch von Kindern: Die Berliner Beratungsstellen unterscheiden sich deutlich in ihren Angeboten, Konzepten und ihrer Vorgehensweise/ Reintegration des mißbrauchten Kindes in die Familie wird von den meisten als wenig erstrebenswert angesehen

Sexueller Mißbrauch ist eines der Delikte mit der höchsten Dunkelziffer. Denn fast immer findet der Mißbrauch im Privatbereich der Familie statt, werden die Kinder (zu rund 80 Prozent Mädchen) im Schlaf- oder Kinderzimmer vom Vater, Stiefvater, Opa oder Bruder zu sexuellen Handlungen genötigt. Die Kinder werden vom Täter zum Schweigen verpflichtet, sei es durch die Bezeichnung der Handlungen als »unser kleines Geheimnis«, sei es durch Androhung von Strafe. In nicht wenigen Fällen waren die mißbrauchten Kinder auch gar nicht in der Lage, zu sagen, was ihnen angetan wird, weil ihnen noch die Worte fehlen, um die Handlungen, die an ihnen vollzogen werden, beschreiben zu können. Die meisten Kinder sind in der Regel zwischen sechs und zehn Jahre alt — häufig noch jünger —, wenn sie das erste Mal mißbraucht werden.

Die Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit der verschiedenen Beratungsstellen und Frauengruppen zeigt in Berlin erste Wirkungen: Zunehmend werden auch Übergriffe auf kleine Kinder von Sozialarbeitern, Erziehern oder Familienmitgliedern erkannt beziehungsweise erahnt und den Beratungsstellen mitgeteilt. In Berlin gibt es dafür mehrere Anlaufstellen, die alle vom Senat gefördert werden. Zwei von ihnen, nämlich »Kind im Zentrum« (KiZ) und »Wildwasser e.V.«, sind ausschließlich auf den Umgang mit sexuellem Mißbrauch spezialisiert.

KiZ ist ein Verein, der 1986 von einigen überwiegend im psychosozialen Bereich arbeitenden Frauen und Männern gegründet wurde, um Opfern, Müttern, professionellen Helfern und auch Tätern eine Anlaufstelle zu bieten.

Die Mädchenberatungsstelle bei Wildwasser ging 1987 aus der feministischen Frauenselbsthilfebewegung hervor, die Anfang der achtziger Jahre das bis dahin völlig totgeschwiegene Thema als erste öffentlich machte. Alle übrigen Beratungs- und Krisenstellen kümmern sich auch um andere Probleme, wie zum Beispiel Mißhandlung oder Vernachlässigung (Kinderschutz-Zentrum, Jugendnotdienst, Kindernotdienst) oder haben andere Themenschwerpunkte wie zum Beispiel Selbstmordgefährdung (NeUhland).

Die verschiedenen Einrichtungen unterscheiden sich in ihrem Angebot, ihren Möglichkeiten und ihrer Vorgehensweise beziehungsweise ihrem Selbstverständnis.

Ihre Hauptaufgabe sehen KiZ und Wildwasser darin, betroffene Kinder und Jugendliche vor weiteren Übergriffen zu schützen. Das will gut vorbereitet sein. Das heißt: Wenn ein Fall von Mißbrauch vorliegt, müssen erst einmal die Unterstützung vom Jugendamt eingeholt und eine Unterkunft für das Kind besorgt werden, bevor die Eltern konfrontiert werden. Da in Deutschland noch immer keine rechtliche Grundlage besteht, um den Täter zum Verlassen der gemeinsamen Wohnung zu zwingen, und sich nur wenige Mütter gegen ihren Partner auf die Seite des mißbrauchten Kindes stellen, muß meist erst einmal das Kind aus der Familie genommen und anderweitig untergebracht werden. Dies geschieht entweder in der wildwassereigenen Mädchenwohngruppe, im Mädchenhaus, in den Kinderwohngruppen des Kindernotdienstes oder des Kinderschutz-Zentrums, in der Jugendwohngruppe des Jugendnotdienstes oder in anderen kooperierenden Einrichtungen.

Vor allem bei kleineren Kindern, die durch Verhaltensauffälligkeiten (zum Beispiel hypersexualisiertes oder autoaggressives Verhalten) anderen aufgefallen sind, muß erst einmal diagnostiziert werden, ob ein Fall von Mißbrauch vorliegt. Dies geschieht spielerisch, mit Handpuppen, anatomischen Puppen oder Malstiften. Die Kinder können zu diesem Zweck zu KiZ oder zum Kindernotdienst gebracht werden. Auch Wildwasser leistet diese Aufdeckungsarbeit, hat aber momentan nur begrenzt Kapazitäten frei.

Vor allem bei kleineren Kindern bemühen sich die Beratungsstellen darum, auch mit den anderen Familienmitgliedern ins Gespräch zu kommen. Wichtig ist dabei insbesondere die Kontaktaufnahme mit den Geschwistern der Opfer, um herauszufinden, ob diese auch mißbraucht werden. Die Mutter spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Ihr soll geholfen werden, mit den eigenen Gefühlen, wie Wut oder Scham, fertigzuwerden, das eigene Verhältnis zum Täter zu klären und eventuell eigene Mißbrauchserfahrungen zu verarbeiten.

Diese Beratungsgespräche werden bei KiZ, Wildwasser und Kinderschutz-Zentrum geführt; außerdem gibt es bei Wildwasser eine angeleitete Müttergruppe. KiZ und das Kinderschutz-Zentrum arbeiten zusätzlich auch mit Tätern, allerdings mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Während erstere durch diese Arbeit verhindern wollen, daß die Täter später andere Kinder mißbrauchen (zum Beispiel die Kinder einer neuen Partnerin), streben letztere eine Reintegration des mißhandelten Kindes in die Familie an. In einem Drittel der vom Zentrum betreuten Familien wird das Kind (zu 90 Prozent sind das Mädchen) wieder in die Familie zurückgebracht, nachdem der Täter sich einer Therapie unterzogen hat und den Mitarbeitern vertrauenswürdig erscheint.

Da Mißbraucher Wiederholungstäter sind und außerdem das Verhältnis zwischen Täter und Kind durch den brutalen Bruch des kindlichen Vertrauens zumindest deutlich gestört ist, wird dieser Weg weder bei KiZ noch bei Wildwasser als erstrebenswert betrachtet. In allen drei Beratungsstellen hat jedes Familienmitglied einen eigenen Berater. Bei KiZ werden die Mütter von Frauen, die Männer und älteren Jungen von Männern und die Kinder von Frauen betreut. Im Kinderschutz-Zentrum wird ähnlich verfahren; lediglich im Krisendienst entscheidet der Zufall. Bei Wildwasser arbeiten ausschließlich Frauen für Frauen und Mädchen. Männliche Vertrauenspersonen der Opfer (zum Beispiel Erzieher) und Bruder werden dort jedoch ebenfalls beraten.

Während im Kinderschutz-Zentrum Gespräche mit der ganzen Familie zum Programm gehören, legt KiZ vor allem für die Konfrontation von Täter und Opfer scharfe Kriterien an. Nicht nur, daß das Kind (bei KiZ zu 70 Prozent Mädchen) diese Begegnung wünschen muß, sondern der Täter muß den sexuellen Mißbrauch zugeben und die Verantwortung dafür übernommen haben.

Um zu diesem Punkt zu kommen, werden die Männer in einer Tätergesprächsgruppe von einer Beraterin und einem Berater betreut. Die wenigsten Täter kommen übrigens freiwillig zu KiZ: Meist ist eine Bewährungsstrafe, mit der Auflage, eine Therapie zu machen, der Grund für ihre Mitarbeit. Keine der Beratungsstellen zeigt Fälle selbst bei der Polizei an. Sowohl das Kinderschutzzentrum als auch KiZ handeln nach der Devise: Helfen statt strafen.

Wildwasser klärt mit betroffenen Mädchen im Einzelfall, ob eine Strafanzeige ratsam ist, und ob das Mädchen bereit ist, den Prozeß durchzustehen. Für diesen Fall bietet Wildwasser Unterstützung (zum Beispiel Prozeßbegleitung) ab. Außerdem bieten KiZ, Wildwasser und das Kinderschutz-Zentrum Informations- und Fortbildungsveranstaltungen zum Thema an. Denn viele Berufsgruppen (zum Beispiel Juristen, Sozialarbeiter, Ärzte) werden während ihrer Ausbildung immer noch — wenn überhaupt — mangelhaft auf den Umgang mit Mißbrauchsfällen vorbereitet. Sonja Schock