Vom Nachttisch geräumt

Kinder

Ein humoristischer, ein verspielter Dix. Ohne Bitterkeit, aggressionslos. Aber ganz und gar nicht langweilig, sondern einfallsreich und mit ungehemmter Farbenfreude. Eine kindliche Brutalität, die den Spaß am verletzenden Einfall so zeigt, daß die Aggression daraus wirklich verschwunden scheint. Da ist zum Beispiel Münchhausen auf seinem Roß. Dem Tier fehlt die hintere Hälfte. Es hört einfach nach dem Sattel auf. Durchgehauen mit einem glatten Hieb. Es scheint ihm nichts auszumachen. Es trägt den Reiter und säuft am Brunnen. Aber hinten fließt das Wasser in einem dicken Schwall wieder ab. Der Reiter sieht sich verblüfft um. Mehr nicht. Ein Meisterbeispiel kindlicher Grausamkeit. Es stammt aus einem Album, das Otto Dix 1930 für seinen Sohn Ursus gemalt hat. Dieter Gleisberg hat jetzt fünf Bilderbücher des Malers herausgebracht. Er weist in seinem Nachwort auf interessante Parallelen zwischen dem offiziellen, dem großen Dix und diesen familiären Gelegenheitsarbeiten hin.

Otto Dix: Kinderalbum. Hrsg. von Dieter Gleisberg. Edition Leipzig, 216 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen. Text in deutsch, englisch und französisch, 124DM.

Fellowtraveller

In die Abgründe des Engagements, in die Verlogenheiten der Parteilichkeit führt Karl Kröhnkes Lion Feuchtwanger — Der Ästhet in der Sowjetunion. Es ist eines der lesenswertesten Bücher des vergangenen Herbstes. Kröhnke geht Feuchtwangers Eintreten für die stalinistische Sowjetunion nach. Das Ergebnis ist kein schmeichelhaftes Porträt. Der Fellowtraveller folgt seinem großen Steuermann aus Gründen, die nichts zu tun haben mit seinem Eintreten für die Erniedrigten und Beleidigten. Das soziale Pathos ist die Kehrseite einer Identifikation mit dem Starken und Großen, eines ästhetischen Genusses der Grausamkeit auf der einen und Reflex eines unreflektiert schlechten Gewissens auf der anderen Seite. Eine vertrackte Gemütslage, die keine lauteren Empfindungen aufkommen läßt. Kröhnke psychoanalysiert nicht — das sind die Stammeleien seines Rezensenten — Kröhnke zitiert. Er bringt zusammen, was zusammengehört. Er hat sich umgesehen im Werk und Leben seines Helden. Es ist nicht seine Schuld, daß der keinen schönen Anblick bietet. Zum Beispiel Feuchtwangers Kampf gegen die Klassenjustiz muß nach Kröhnke anders gelesen werden, als man es naiverweise lange tat. Feuchtwanger rannte an gegen die Beugung des Rechts in den kapitalistischen Ländern. Zu den Moskauer Prozessen zitierte er in seinem Moskau 1937 ohne ein Wort der Kritik die „Sowjetleute“: „Es ist richtig, in den Hauptverfahren haben wir gewissermaßen nur das Destillat, das präparierte Ergebnis der Voruntersuchung, gezeigt. Wer daran Anstoß nimmt, der möge bedenken, daß der Prozeß in erster Linie ein politischer Prozeß war. Es ging uns um die Reinigung der innenpolitischen Atmosphäre.“ Kröhnke hat ein antifaschistisches Denkmal destruiert. Danke.

Karl Kröhnke: Lion Feuchtwanger — Der Ästhet in der Sowjetunion. Ein Buch nicht nur für seine Freunde. J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 321 Seiten, 48DM.

Ich

Es gibt Menschen, die sind nicht einer, sondern viele. Sie sind nicht eine sechsundzwanzigjährige Studentin, sondern sie sind das, ein pubertierendes Mädchen, ein kleiner Junge und noch zwanzig andere Personen dazu. Sie sind all diese Menschen in einem Körper. Jede Person hat ihre Geschichte. Keine von ihnen ist in der Lage, einen ganzen Tag auszuhalten. Wenn die eine schwächer wird, übernimmt die andere. Begabungen und Fähigkeiten sind auf die verschiedenen Personen unterschiedlich verteilt. Die eine ist mehr künstlerisch, die andere analytisch talentiert, die nächste hat ein wunderbares Gedächtnis. Die meisten von ihnen kämpfen darum, möglichst oft, möglichst lange das Bewußtsein des Körpers zu steuern, andere sind ganz froh, daß sie im Hintergrund bleiben, nur ab und zu vorkommen. Im Falle von Joan Frances Casey gab es ein kleines Mädchen, das nur in Panikmomenten hervorkam und versuchte, sich (und die anderen und den großen Körper einer erwachsenen Frau) umzubringen.

Joan Frances Casey war eine multiple Persönlichkeit. Es gibt nichts Faszinierenderes, kaum etwas Schrecklicheres als die Geschichten, die sie zu erzählen weiß. Gegenüber dem, was mit multiplen Persönlichkeiten vorgeht, ist die freudianische Einsicht, der Mensch sei nicht Herr im eigenen Kopf, weil das Unterbewußtsein mitsteuere, von biedermeierischer Harmlosigkeit. Der Kopf einer multiplen Persönlichkeit gleicht einer ständig explodierenden Splitterbombe, die sich jahrelang für völlig normal hielt, meist nur zum Arzt ging, um ihre Gedächtnisausfälle repariert zu bekommen.

Es gibt einen Klassiker der Literatur der multiplen Persönlichkeit. Das Buch heißt Sybil, und stammt von Rheta Schreiber, der behandelnden Ärztin. Joan Frances Caseys Ich bin viele ist die Geschichte, wie aus vielen eine Patientin wurde, geschrieben von dieser selbst.

Das Buch wird Epoche machen bei jedem, der es liest. Die meisten werden es als Science-Fiction abschieben, es an eine ihrer für die Müllbeseitigung zuständigen Unterpersonen weitergeben, aber sie werden die Erfahrung nicht loswerden, daß ihr eigenes, wunderschön gepflegtes, von tausend Institutionen, darunter dieser Zeitung, täglich durchkämmtes, gebürstetes, adrett frisiertes Bewußtsein kein Standpunkt ist, von dem aus sie auf die Welt schauen können, sondern sich selbst in beständiger Schaukellage, in dauernder Gefahr des Kenterns befindet; daß, was sich wie Ruhe ausmacht, nichts ist als ein unserer Wahrnehmung entzogenes Übermaß an Bewegung, ein Zerren und Ziehen, das ein feinerer Seismograph in wilden Ausschlägen festhalten könnte.

Ästheten sollten sich auf keinen Fall von dem unverzeihlich blöden Versuch der Grafikerin, den Inhalt des Buches in eine gespaltene Titeltypographie zu überführen, abschrecken lassen, das Buch zu lesen. Kein Wort mehr: gehet und leset.

Joan Frances Casey: Ich bin viele. Übersetzt von Cornelia Holfelder von der Tann und Adelheid Zöfel. Rowohlt-Verlag, 440 Seiten, 32DM.

Nabokov

Auf Seite405 spricht Vladimir Nabokov von seinem „admirable translator Dieter Zimmer“. Recht hat er. Daß ich auf dessen große Nabokov- Ausgabe im Rowohlt-Verlag noch nicht eingegangen bin, ist unverzeihlich. Schließlich verdient auch seine Herausgeberarbeit jedes Lob. Aber es geht den Rezensenten wie den anderen Menschen auch: Zu dem, was man am liebsten täte, kommt man nicht. Auf Zimmers Lolita-Übersetzung wäre einzugehen, auf die Anmerkungen und das Nachwort, vor allem natürlich auch einmal auf Lolita selbst. Immerhin einer der besten Romane dieses Jahrhunderts. Außerdem so herrlich aktuell.

Aber nichts davon, sondern nur ein paar Hinweise auf Nabokovs Selected Letters 1940-1977, die natürlich auch irgendwann einmal in der auf 23 Bände geplanten großen Rowohlt-Ausgabe auf deutsch erscheinen werden.

Ein Knurrhahn war er. Dieter E. Zimmer gehört zu den ganz wenigen, die Nabokov in diesen Briefen lobt. Selbst da, wo er es tut, folgt dem meist eine lange Auflistung von Fehlern, die der Gepriesene sich hat zuschulden kommen lassen. Ein notorischer Besserwisser.

Nabokov war vierzig, als er in die USA kam. Mit zwanzig hatte er, im April 1919, St. Petersburg verlassen, studierte in Cambridge und lebte dann in Berlin und Paris. Seit 1923 schrieb er alle zwei Jahre einen Roman, daneben Essays, Gedichte und Übersetzungen. Alles in russisch.

In den USA fing er an, englisch zu schreiben. 1955 erschien in Paris Lolita. Erst 1958 konnte der Roman in den USA erscheinen. Ein Welterfolg, der seinem Autor bis zum Tode 1977 erlaubte, ganz seinen Büchern und seinen Schmetterlingen zu leben.

Die Briefe der Jahre 1940-1977 zeigen den Weg zum Ruhm und wie ein Mann, der sich schon immer für einen der besten gehalten hatte, damit fertig wurde, daß es endlich auch die anderen gemerkt hatten.

Geld spielt dabei eine große Rolle. Nabokov achtete sehr darauf. Sehr schön, wie er zuerst ablehnte, das Drehbuch zu Kubricks Film zu schreiben, wie ihm dann aber, als er zu ahnen begann, um welche Summen es dabei ging, „eine ästhetisch befriedigende“ Lösung einfiel. Er verließ Europa, zog nach Los Angeles und bombardierte Kubrick erst monatlich, dann wöchentlich mit neuen Szenen. Ein Arbeiter, ein unermüdlicher Ackerer, der sich auf seine Kombinationslust, seinen Sinn fürs Drama und die Kraft, die ihn immer wieder neue Bilder für Situationen finden ließ, stets verlassen konnte. Nach neun Monaten war alles getan und Nabokov hatte 40.000 Dollar verdient. Die Einnahmen aus seiner Gewinnbeteiligung hatten damit noch nichts zu tun. Für seinen Roman Fahles Feuer hatte er gerade 2.500 Dollar Vorschuß erhalten.

Ein anderes Filmprojekt kam über einen kurzen Briefwechsel nicht hinaus. Alfred Hitchcock bat ihn um ein Drehbuch. Aber als Nabokov eine Geschichte vorschlug, die Hitchcock gerade ein paar Jahre vorher gedreht hatte — The Iron Curtain —, da ließ der verschnupfte Regisseur nichts mehr von sich hören. Jedenfalls reime ich mir das so zusammen. Die sehr guten Anmerkungen der Herausgeber Dmitri Nabokov (der Sohn von Vladimir) und Matthew J. Bruccoli schweigen sich über Näheres aus.

Aber natürlich geht es vor allem um Literatur, um Nabokovs Romane, die alten, die jetzt ins Englische übersetzt wurden und die neuen, und um eine philologische Großtat, um Nabokovs Eugen Onegin-Übersetzung. Puschkins Versroman beschäftigte ihn weit mehr als zehn Jahre. Nabokovs Kommentar füllt mehrere Bände. Die Briefe über diese Arbeiten machen deutlich, mit welcher Detailversessenheit, mit welchem kriminalistischen Scharfsinn der Schriftsteller Vladimir Nabokov sein Handwerk betrieb. Schon darum muß man sie gelesen haben.

Vladimir Nabokov: Selected Letters 1940-1977. Hrsg. von Dmitri Nabokov und Matthew Bruccoli. Vintage (Paperback), 582 Seiten, 12Engl. Pfund.

Aufbruch

Lilja Brik (1891-1978) war Geliebte, Lebensgefährtin und Vertraute von Wladimir Majakowski. Jetzt sind ihre Erinnerungen an den Dichter auf deutsch erschienen. Die ersten Jahre der Beziehung (sie lernte ihn 1915 kennen) Aufbruch, Begeisterung, Tollerei, dann die Abkühlungen privat und politisch. Die beiden waren nie allein. Der Anfang ist wunderbar zu lesen. Eine Generation, die gerade in dem Augenblick erwachsen wird, da eine ganze Welt neu gemacht werden soll, da Lügen und Konventionen nicht mehr gelten, sondern die Dinge so dargestellt werden sollen, wie sie sind — kann man sich Schöneres wünschen?

Desto schlimmer das Ende. Nicht nur das Majakowskis 1930. Danach kam der Tod ihres späteren Mannes, Primakow, General der Roten Armee, erschossen 1937 von den Genossen. 1945 starb ihr erster Mann, Ossip Brik, der immer mit dabei war.

Leben wie aus Tschernyschewskis Was tun? oder aus den großen Berliner Wohnungen der frühen siebziger Jahre: Zwei Leute, um die sich immer wieder andere scharen, Gruppen bilden. Hier ein Flugblatt gemeinsam machen, da eine Seminararbeit, ein Kind, einen Schlager, einen Roman.

Bei Lilja Brik war es ähnlich. Nur alles ein paar Wolkenkratzer höher. Majakowski, Pasternak, Eisenstein, Chlebnikow, Jakobson, Schklowski. Gab sie einem abgehungerten Maler etwas zu essen, dann war es Léger. Es waren die goldenen Jahre der Avantgarde, und Lilja Brik war mittendrin, und wir, die Leser des Buches, sind es auch. Beigegeben wurden dem Band die Briefwechsel mit Wladimir Majakowski, Ossip Brik und Elsa Triolet. Letztere ist ihre Schwester, später Frau Aragon. Wer das Buch lesen möchte, muß leider den doppelten Preis zahlen. Die Verwandlung der Offizin Andersen Nexö in Leipzig aus einem VEB in eine GmbH ist der Binderei überhaupt nicht bekommen. Einmal gelesen, löst sich das Buch in seine Bestandteile auf.

Lilja Brik: Schreib Verse für mich — Erinnerungen an Majakowski. Übersetzt von Ilse Tschörtner. Verlag Volk & Welt, 258Seiten, zahlreiche s/w Fotos, 36DM.

Gegengift

Über die Untaten der SED erfahren wir im Augenblick jede Menge. Dafür sorgen schon die Stasi-Unterlagen. Eine auch nur annähernd vergleichbare Öffentlichkeit ist ja den BKA-, LKA- MAD- usw. -Unterlagen bisher nicht beschieden. Es besteht die Gefahr, daß wir anfangen, uns einzubilden, der Kalte Krieg habe westlich der Elbe zu keinen grausigen Absurditäten geführt. Diether Possers Anwalt im Kalten Krieg — Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968 sorgt da für Abhilfe. Man nehme nur die von ihm erzählte Geschichte des CDU-Politikers Wilhelm Elfes. Der Antinazi war 1945 der CDU beigetreten und wurde Landtagsabgeordneter und Oberbürgermeister von Mönchengladbach. Im November 1951 schloß die CDU ihn aus der Partei aus. Begründung: Elfes wäre bei einer Kundgebung gegen die Wiederaufrüstungspolitik Adenauers zusammen mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei aufgetreten. Elfes engagierte sich danach im „Bund der Deutschen für Einheit, Frieden und Freiheit“. 1953 wurde ihm von seinem Amtsnachfolger ein Paß verweigert. Elfes klagte. Die Klage wurde abgelehnt. Elfes habe Gespräche mit dem Präsidenten der Französischen Nationalversammlung geführt, und das Verwaltungsgericht erklärte ihm: „Treibt ein einzelner Bürger selbständig Außenpolitik, so stört er damit die Handlungsfreiheit der nach dem Grundgesetz zuständigen Organe.“ Elfes bekam dann doch noch einen Paß: am 1.Juli 1957. Nicht weil sich irgendein Gericht anders entschieden hatte, sondern weil die Regierung wechselte. Possers Buch steckt voll solcher Geschichten, über die wir heute lachen; die aber Gründe für Wut und Empörung sein sollten. Jedenfalls rufen sie die Untaten des CDU-Staates wieder ins Gedächtnis und helfen die satte Selbstgefälligkeit von „Adenauers Enkeln“ ein wenig zu korrigieren.

Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg — Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951—1968. C. Bertelsmann, 474Seiten, 42DM.

Schwarzer Humor

Man mag darüber streiten, ob nach dem Krieg FBI-Chef Edgar Hoover oder CIA-Boss Dulles der All American Master of Black Humour war. Ganz sicher kommt gleich danach Chas Addams, der Cartoonist des 'New Yorker‘. Seine besten Arbeiten bis 1956 sind jetzt in einem Band gesammelt. Wer Tiere und kleine Kinder nicht leiden kann, der wird seine Freude daran haben. Im Vorwort heißt es: „Addams spricht den Unmenschen in uns an.“ Das ist völlig korrekt und erklärt die Riesenverbreitung und den unvergleichlichen Erfolg des Zeichners zur Genüge. Der zweite Band mit den Zeichnungen von 1957 bis 1988 kommt hoffentlich bald.

Häusliche Höllen — Die Welt des Chas Addams. Hrsg. von Tee Addams, mit einem Text von Wilfrid Sheed, übersetzt von Michael Farin und Birgit Mayer. Schirmer/ Mosel, 168Seiten, mehr als 150 Abbildungen, 49,80DM.

Cassirer

Von einer der bekanntesten jüdischen Familien Deutschlands handelt Georg Brühls Die Cassirers — Streiter für den Impressionismus. Es ist keine Familiensaga, die über Generationen die Schicksale eines Clans verfolgt wie Galls Bassermann-Porträt oder Marek Halters Roman über die Geschichte seiner Familie. Brühl konzentriert sich auf die beiden Cousins Paul und Bruno Cassirer, die das Familienvermögen dazu verwendeten, der neuen Kunst den Weg zu bahnen. Die anderen — zum Beispiel der Philosoph Ernst Cassirer — werden kurz erwähnt, die Familiengeschichte wird eingangs vorgestellt, aber dann gehören die nächsten zweihundert opulent illustrierten Seiten ausschließlich den beiden Kunst-Cassirers. Paul Cassirer (1871-1926), einer bedeutendsten deutschen Kunstsammler und -händler, Verleger, unter anderem der Zeitschriften 'Pan‘ und 'Die weißen Blätter‘, erschoß sich während der Scheidungsverhandlungen von seiner Frau Tilla Durieux. Ein egomanischer Selbstdarsteller mit bezwingendem Charme, der wohl die erotische Niederlage gegen Ludwig Katzenellenbogen nicht ertrug. Brühls Buch ist keine wirkliche Biographie. Über weite Strecken reiht er nur Material aneinander. Seitenweise Listen und Tabellen. 160 Seiten allein die Bibliographie von Bruno Cassirers Zeitschrift 'Kunst und Künstler‘. Nicht gerade ein Lesevergnügen, aber eine Fundgrube und, dank der zahllosen Abbildungen, eine Lust darin zu blättern.

Georg Brühl: Die Cassirers — Streiter für den Impressionismus. Edition Leipzig, 495Seiten, 377 s/w- und farbige Abbildungen, 149DM.

L'art brut

Der erste Band der Schriften Jean Dubuffets ist eine amüsante Einführung in die Motive und Verfahren einer künstlerischen Produktion, die mit der „kulturellen Kunst“ nichts zu schaffen haben will, sondern der Auffassung ist: „Für den Künstler gilt dasselbe wie für den Kartenspieler und die Geliebte: als Professionelle sind sie etwas zweifelhafte Figuren.“

Dubuffets Schriften sind überzeugende Plädoyers für die Rolle des Zufalls, für die Notwendigkeit, die Materialien selbst sprechen zu lassen. „Der Begriff ,Zufall‘ ist ungenau; man sollte eher von den Einfällen und Neigungen des wie ein Pferd nach vorn und hinten ausschlagenden Materials sprechen.“

Dubuffet schreibt hervorragend. Seine Sätze treffen. Das, worum es ihm geht, und den Leser. Manche sind prägnant wie ein Aphorismus. Wen entzückt nicht die glückliche Paradoxie, daß er die Verteidigung seiner so ganz und gar unliterarischen Malerei mit der raffiniertesten literarischen Virtuosität formuliert?

Jean Dubuffet: Malerei in der Falle — Antikulturelle Positionen. Schriften Band1. Herausgegeben von Andreas Franzke, übersetzt von Elke Kronjäger. Verlag Gachnang & Springer, 120 Seiten, zwei Abbildungen, 33DM.

Schneiderphilosophie

Thomas Carlyles Sartor resartus ist ein Klassiker. 1833/34 erstmals erschienen und bald danach ein Kultbuch. Es ist die fingierte Biographie eines deutschen Professors und die Vorstellung seines natürlich ebenso fiktiven Hauptwerkes Die Kleider, ihr Werden und Wirken. Carlyle hält seinem englischen Publikum, seinen Zeitgenossen, aber auch uns den bizarren Spiegel der merkwürdigen Ansichten des Professor Teufelsdröckh hin, und wir finden uns in dieser von Jean Paul inspirierten Figur zur Kenntlichkeit entstellt wieder.

Der Herr Professor sieht die Welt durch das Glas seines obsessiv besetzten Themas. Die Kleiderfrage ist die alles ver- und alles enthüllende Metapher. Daneben tausend Abschweifungen, verschlungen verschnörkelte Gedankenwege, auf denen die schönsten Entdeckungen gemacht werden. Der entscheidende Kniff von Carlyles Präsentation liegt darin, daß die Verschrobenheit seines Helden automatisch eine amüsierte Distanz erlaubt, die der ernsten Großartigkeit mancher Ideen nur oberflächlich Abbruch tut, in Wahrheit aber sie plastischer herausstellt, sie überraschender und prägnanter herausarbeitet. Die Ironie ist auch bei Carlyle die Sprache der Liebe. Er macht sich lustig über das, was er verehrt und begehrt. Die philosophischen Reden, die metaphysischen Reflektionen, die der deutsche Professor anstellt, faszinieren Carlyle. Es geht ihm darum, sie unter die Leute zu bringen. Aber er schließt das süße Marzipan in die bittere Schokolade der distanzierenden Ironie. Desto besser schmeckt das Innere.

Es ist ein Vergnügen, Carlyle zuzusehen, wie er Praline an Praline reiht und darauf achtet, daß der Leser immer wieder nach dem nächsten greift, angezogen vom Reiz der Kontraste, vom Spiel und Widerspiel der richtigen Adjektive, der gekonnten Stemmbögen dialektisch sich ver- und entwickelnder Perioden.

Ohne Peter Staengles virtuose Übersetzung wäre von diesem Vergnügen nichts herübergekommen ins von Carlyle so bezwingend parodierte Deutsche. Staengles Anmerkungen und Nachwort machen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Buches, auch die mehr als ambivalente Figur des Autors deutlich.

Thomas Carlyle: Sartor Resartus. Übersetzt von Peter Staengle, Manesse Verlag, 455Seiten, 32DM.