Das Weib in dir und mir

■ „Weiningers Nacht“ — ein Film von Paulus Manker

Weib, Jude, Ich — weg mit allem“ (Jean Amery über Otto Weininger)

Ein Schuß ertönt, aus dem Dunkeln des Zimmers wird ein Schlüsselloch sichtbar. Ein Schlüssel tastet sich suchend vor, jenseits der Tür, Licht flammt auf. Noch immer sehen wir nur die Schlüssellochperspektive, unüblicherweise von drinnen nach draußen verkehrt. Erst dann öffnet sich die Tür einen Spalt breit, ein Männerkopf klemmt sich zwischen Tür und Rahmen — und bleibt stecken. Es geht nicht vor und nicht zurück, quälende Minuten lang.

Otto Weininger versucht sich Zutritt zum Sterbezimmer Beethovens in der Wiener Schwarzspanierstraße zu verschaffen. Er mietet den Raum von einer ahnungslosen Wirtin, schließt sich eine Nacht lang — die Nacht vor seinem Selbstmord — dort ein; das Herz klopft, sein Kopf platzt, der Raum verwandelt sich in eine Arena, ein Amphitheater, in welchem die Erinnerungen Revue passieren, Gestalt annehmen. Regisseur Paulus Manker, der selbst Otto Weininger spielt, hat das Stück des israelischen Autors Joshua Sobol bereits 1988 am Volkstheater Wien inszeniert. Der Film kann oder braucht die theatralische Nähe nicht leugnen; das Verhältnis von drinnen und draußen ist nicht mehr im Fluß. Die Idee, das Bild, die Vorstellung im Kopf wird ausschließlich und sprengt den Rahmen; es gibt nur die eine schreckliche Wirklichkeit. Die Akteure treten vor.

Otto Weiniger war 23 Jahre alt, als er sich erschoß. Ein Doktor der Philosophie, der am Tage seiner Promotion vom Judentum zum Protestantismus übertrat. Seine Arbeit Geschlecht und Charakter irritierte nach Erscheinen, populär wurde sie erst nach Weiningers Tod. Der Mann hat tatsächlich gelebt. Freud fand ihn „interessant“, was ihn wurmte, er hatte in Strindberg und Kraus seine Bewunderer; mit ersterem verband ihn der Frauenhaß, letzterer nutzte ihn als Anti-Freud. Weininger mag keine Frauen: „Es ist das Weib in dir“, sagt er zu seiner Freundin Clara (Andrea Eckert), als sie ihn zu verführen sucht. Weininger mag keine Körperlichkeit: „Es ist das Tier in mir“, behauptet er, als er ihre verführerische Nähe nicht sofort abwehren kann, nach einem Kuß muß er sich übergeben. Und Weininger mag keine Juden: „Der Antisemitismus ist eine jüdische Erfindung“, erzählt er einem Freund. Eine Rückblende zeigt Otto mit seinen Eltern vor einer Jahrmarktsbude, wo ein Kasperl einen Juden veralbert. „Woran erkennt man den Juden?“ fragt Kasperl. „An der langen Nase“, lautet die Antwort. „Hast doch selbst 'ne lange Nas!“ meint ein Kind vorwitzig zu seinen Eltern, Otto Weininger. Weininger haßt sich, als Mann, als Jude, bekämpft seine weiblichen Anteile, die ihn zum Homosexuellen stempeln könnten. Feindbild Frau: die Hure. Der Vater nimmt ihn mit in den Puff, wo ihm der Schwanz — eine Ausschweifung der Phantasie — abgebissen wird. Wunschbild Frau: die Mutter, wie gehabt, die für ihn gegen den Vater eintritt, als es darum geht, bis wann er abends an seiner Promotion schreiben darf. Weininger beginnt Selbstgespräche, da er mit sich kämpft; er hat einen Doppelgänger, aber sein zweites Ich ist weiblich (Josefin Platt).

Mankers Film versucht sich nicht in einer Psychologisierung der ambivalenten Figur Weiningers. Er spielt den jungen Mann mit vorsichtiger Distanz, schließlich ist dieser auch ein distanzierter Mensch gewesen; er spielt einen ernsthaften jungen Mann, den man auch ernst nehmen kann und muß. Sein individueller Wahn entspricht einem kollektiven Wahnsinn.

Für einen Moment lang läßt sich der individuelle Wahn besänftigen, in theatralische Bilder tauchen, die dem gepanikten Hirn mit all seinen Erinnerungen entspringen: eine Prozession von Juden durch eine Kirche, die, begleitet von einer Klarinette, „O Haupt voll Blut und Wunden“ singen; aber die gewünschte Verschmelzung, die Überwindung des Trennenden findet nicht wie gewünscht statt. Weininger phantasiert bereits. Strindberg kommt, reißt sich die Maske ab, unter der Weiningers Widersacher Moebius auftaucht, der ihn des Plagiats beschuldigt hat; der verwandelt sich wiederum in seinen Lehrer Tietz, setzt ihm die Dornenkrone auf und sagt: „Mach's dir gemütlich, Otto.“ Die Erlösung ist der Tod. Sabine Seifert

Weiningers Nacht. Nach dem Bühnenstück von Joshua Sobol, Regie: Paulus Manker. Kamera: Walter Kindler. Mit Paulus Manker, Hilde Sochor, Josefin Platt, Sieghardt Rupp, Andrea Eckert. Farbe, 100 Minuten. Österreich 1989.