ESSAY
: Ruhe nach dem Wüstensturm

■ Lektionen und Legenden eines Krieges, der die Welt nicht veränderte

Ein Jahr nach dem Beginn der US-Luftangriffe auf den Irak, und inmitten der Veröffentlichung einer Masse von Analysen und Rückblicken zu diesem Konflikt, lassen sich eine Reihe von Interpretationen dieses Ereignisses identifizieren. Manche davon sind Legenden. Alle Kriege bringen Legenden hervor, und kein Krieg erfüllt alle Erwartungen derjenigen, die in ihnen kämpfen oder gar siegen; dies gilt ebenso für den Golfkrieg.

Legende Nummmer eins lautet: Der Krieg begann mit der US-Luftoffensive am 17. Januar 1991. Für die Irakis, die Kuwaitis und viele andere in der Region begann der Krieg am 2.August 1990, als Saddam Kuwait eroberte: George Bush eröffnete nicht den Krieg, er beschloß die Verwicklung der USA in einen Krieg, der schon begonnen hatte, genau wie Roosevelt 1941. Alles andere ist amerikanische Arroganz.

Während und nach dem Konflikt gab es viele Versuche, die Bedeutung des Krieges und seine Beziehung zu anderen internationalen Vorgängen zu erklären. Im Nahen Osten stellten manche, auch Saddam, diesen Krieg als einen zwischen dem Westen und den Völkern des Islam dar, eine Fortsetzung der Kreuzzüge und der imperialistischen Okkupation. Eine andere Variante desselben Gedankens lautete: Der Golfkrieg bezeichne ein neues westlich-imperialistisches Streben, den Islam zu bekämpfen und ihn zu einem weltweiten Feind zu stilisieren, als Kompensation für den verlorenen Traditionsfeind Kommunismus. Eine dritte rivalisierende Theorie dieser Art behauptete, daß trotz der gegenwärtigen Feindseligkeiten eigentlich der Westen für Saddams Handlungen verantwortlich sei, entweder weil in der Vergangenheit die USA und Großbritannien ihn aufgerüstet hätten oder weil die US-Administration über ihre Botschafterin in Bagdad Saddam zum Glauben verleitet hätte, die USA würden einen Angriff auf Kuwait hinnehmen.

„Der Islam“ ist kein Ersatzfeind des Westens

Alle diese Erklärungen sind unbeachtlich. Sie dienen dazu, sich in ein vorgegebenes Gedankenkonstrukt über die Weltpolitik einzufügen, anstatt zu erklären, was tatsächlich geschah. Das Gerede über einen zeitlosen, andauernden Konflikt zwischen „dem Islam“ und dem Westen ist leeres Geschwafel, nicht zuletzt weil die islamische Welt in bezug auf den Golfkrieg völlig gespalten war, mit Saudi-Arabien und dem Iran als Gegner des Irak. Das Argument, „der Islam“ sei ein Ersatzfeind für den Kommunismus, setzt voraus, daß der westliche Kapitalismus irgendwie einen Feind „braucht“. Viele Theorien des Kalten Krieges stützen sich auf diese Annahme, doch ist sie dort genauso falsch wie im Falle des Golfkrieges. Es gibt immer Menschen, besonders in den Verteidigungsindustrien und -bürokratien, die von der Existenz eines Feindes profitieren, doch das System als Ganzes „braucht“ überhaupt keinen Feind für sein soziales und ökonomisches Funktionieren: Vielmehr ist die Erfahrung und die Logik des Kapitalismus, wenn man von einer solchen Logik überhaupt sprechen kann, eine der Transformation der ganzen Welt nach dem eigenen Angesicht — wie er dies gerade zu selbst gestellten Bedingungen in den post- kommunistischen Ländern unternimmt.

Die Behauptung, der Westen sei irgendwie immer für Saddam und auch den Angriff auf Kuwait verantwortlich gewesen, ist genauso oberflächlich: Die meisten von Saddams Waffen lieferte die Sowjetunion, nicht der Westen, und die scheinbar konspirative Anstiftung Saddams zum Angriff auf Kuwait kann einfach als das begriffen werden, was sie tatsächlich war: eine politische Fehleinschätzung ähnlich wie Pearl Harbor, kein geostrategischer Hinterhalt. Die Linke gehört manchmal daran erinnert, daß auch Imperialisten Fehler machen.

Den USA hat der Golfkrieg nicht genützt

Auch über die Kriegsfolgen gibt es viele Legenden. Vielerorts auf der westlichen und insbesondere der US- Seite war damals der Standpunkt anzutreffen, dieser Krieg repräsentiere den Anbruch einer Art von neuer internationaler Ära oder Weltordnung. Das Wort „Ordnung“ aus den Mündern der Mächtigen zu hören ist immer verdächtig — auch hier. Die „neue Weltordnung“ wurde im Jahre 1989 viel herumposaunt, als Bezeichnung für eine neue Zusammenarbeit zwischen USA und UdSSR, und hatte in einer Reihe von regionalen Konfliktlösungen in der Dritten Welt Früchte gezeitigt, manche gerecht (wie Namibia), manche weniger (wie Afghanistan oder Nicaragua). Aber der Golfkrieg hatte damit überhaupt nichts zu tun, da er sich durch die beinahe vollständige Abwesenheit der UdSSR als bedeutender Akteur auszeichnete.

Viele andere, die dies erkannten und manchmal auch begrüßten, gebrauchten den Begriff „Neue Weltordnung“ als Bezeichnung für eine Ordnung, in der die USA die neue dominierende Macht wäre, besonders aufgrund des Geredes vom Ende des Kommunismus und des sowjetischen Einflusses. Man sprach viel von einer neuen Führungsrolle der USA in der Welt, von einer neuen Zeit des Imperialismus und der Überheblichkeit gegenüber anderen entwickelten kapitalistischen Staaten und der Dritten Welt.

Ein Jahr später sieht das alles ziemlich anders aus. Wie Bushs Probleme im eigenen Land zeigen, sind die USA nicht in der Lage gewesen, aus dem Golfkrieg größeren internationalen Nutzen zu ziehen. Die entwickelten kapitalistischen Rivalen, besonders die Deutschen und die Japaner, haben ihre Kriegsrechnungen bezahlt, aber ansonsten Washingtoner Wünschen keine Beachtung geschenkt, ob in der Außenpolitik (z.B. Deutschlands unilaterale Anerkennung Sloweniens und Kroatiens) oder der Handels- und Zinspolitik. Der US-Einfluß in Europa ist wegen des Zerfalls der Sowjetunion stark gesunken. Im Hinblick auf die Dritte Welt gibt es in den USA wenig sichtbaren Enthusiasmus für vermehrtes Eingreifen, und die Verringerung der Verteidigungsausgaben, durch den Golfkrieg verzögert, ist nunmehr im Gange.

Die Folgen für den Nahen Osten sind genauso unerwartet. Saddam Hussein bleibt vorerst an der Macht, obwohl viel von einem neuen Versuch, ihn zu entfernen, gesprochen wird. Kaum jemand wird jedoch annehmen, daß seine Entfernung allein die Probleme des Irak lösen wird, eine gespaltene und jetzt traumatisierte Gesellschaft, mit vielen widerstreitenden Kräften unter der Oberfläche. In Kuwait und Saudi-Arabien haben die herrschenden Familien vom internationalen Druck für Demokratisierung nur formelle Notiz genommen und haben aus Kuwait Hunderttausende von Palästinensern, Jemeniten, Jordaniern und Sudanesen als „feindliche Bürger“ ausgewiesen. Die Lage am Golf hat sich nicht so entwickelt, wie viele erwarteten, denn außer mit Kuwait ist kein Abkommen über die Stationierung von US-Truppen zustande gekommen, und die syrischen und ägyptischen Truppen, die langfristigen Schutz bieten sollten, wurden wieder nach Hause geschickt. Die größte Veränderung gab es vielleicht im Iran, wo der Krieg eine neue Gelegenheit zur Bekräftigung des Einflusses im Ausland geboten hat, genau zu dem Zeitpunkt, zu dem der Norden und Osten Irans seinen Einfluß auf die neuen unabhängigen Republiken des Transkaukasus und Zentralasiens ausdehnen kann.

Das wichtigste Ergebnis des Krieges war die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Kuwaits und, für etwa das nächste Jahrzehnt, die Reduktion der irakischen Fähigkeit, seinen Nachbarn zu drohen. Die Anti-Saddam-Kräfte haben in ihrem Feldzug zweifellos Handlungen begangen, die nicht zu rechtfertigen sind, besonders bei der Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Irak. Aber ob dies den Krieg insgesamt illegitim macht, ist eine andere Frage. Ein Großteil des Argumentes gegen die USA stützt sich auf den Glauben, die Krise hätte anders ausgehen können; aber hier muß man vorsichtig sein. Es gab eine Alternative zur Beteiligung der USA und ihrer Verbündeten am Krieg: nämlich Saddam in Kuwait bleiben zu lassen, mit dem Argument, ein Krieg wäre kostspieliger. Aber die verfügbaren Beweismittel lassen den Schluß, es hätte einen anderen Weg zur Entfernung des Irak aus Kuwait gegeben, nicht zu. Sanktionen hätten nicht funktioniert, da sie auf der Annahme beruhen, Saddam würde angesichts des Leidens seines Volkes nachgeben, und das hat er niemals zuvor und auch nicht seit Kriegsende getan. Verhandlungen hätten nicht funktioniert, weil Saddam nicht an die Möglichkeit eines Angriffs auf ihn glaubte.

Auch die Frage der US-Kriegsziele, hegemonial oder nicht, ist zur Beurteilung des Krieges nicht zentral, denn die Ziele von Staaten sind immer selbstbezogen — wichtig sind nur die eintreffenden Folgen.

Dasselbe gilt für eine der unerwartetsten Folgen des Krieges: die Eröffnung einer neuen arabisch-israelischen Friedensinitiative. Ob sie Erfolg hat oder nicht, bleibt abzuwarten, aber sie hat dem palästinensischen Volk die beste Chance seit den 40er Jahren gebracht, ein Stück Selbstbestimmung zu erlangen. Sie hat auch aufgezeigt, daß Washington, trotz einer Geschichte der Verweigerung gegenüber den Rechten der Palästinenser, diese jetzt akzeptiert, genauso wie es in einem anderen Kontext das Recht des eritreischen Volkes auf Selbstbestimmung akzeptiert.

Die Möglichkeit, daß US-Aktionen — was auch immer ihre Motivation — positive Konsequenzen haben können, wird in manchen Bewertungen der jüngeren US-Politik zuwenig beachtet, aber sie wird von den Menschen vor Ort ohne Scheu artikuliert, beispielsweise bei der Frage nach mehr Hilfe im Irak. Amerikanische Gegner der imperialen US-Politik haben damit am meisten Schwierigkeiten, aber vorauszusetzen, daß alle Aktionen der eigenen Regierung notwendigerweise zu verdammen sind oder daß alle Widrigkeiten der Welt auf vergangene derartige Aktionen zurückzuführen sind, ist eine Form der imperialen Arroganz, unter umgekehrten Vorzeichen.

Politische und moralische Konfusion

Der Golfkrieg brachte eine Menge politische und moralische Konfusion hervor, deren Überwindung lange dauern wird und teilweise von den längerfristigen Folgen über die nächsten zwei bis fünf Jahre abhängig ist. Aber vielleicht die wichtigste Schlußfolgerung aus dem Konflikt ist: er war ein weniger bedeutsames Ereignis in der Weltgeschichte, als es damals den Anschein hatte. Die wichtigste Veränderung der letzten zwei Jahre war nicht die Niederlage des Irak, sondern das Ende des Ost- West-Konfliktes und damit das Wiederauftauchen der Form internationaler Konflikte, die bis 1914 dominierte, im Mittelpunkt des Weltgeschehens: nämlich zwischen entwickelten kapitalistischen Ländern. Die Antwort Japans und Westeuropas auf den „Wüstensturm“ sagt mehr über die begrenzte Bedeutung dieses Krieges aus als alles Geschrei über neue Weltordnungen oder antiislamische und imperialistische Verschwörungen. Fred Halliday

Der Autor lehrt Internationale Politik an der London School of Economics.