Algeriens Armee ist gespalten

Militärjunta legt sich politischen Staatsrat zu/ Wahlen frühestens 1994/ Islamisten rufen zur Ruhe auf/ Armee verstärkt Positionen auf den Straßen/ Bürgerkrieg oder historischer Kompromiß?  ■ Von Oliver Fahrni

Berlin (taz) — Algier liegt in ein kaltes, weißliches Licht gebadet. „Keine Stadt, die wir nicht vernichten wollen, vor der Auferstehung, oder doch mit harter Strafe belegen“, sagt der Prophet in der Sure „Al- isra“ und Algier scheint in diesen Tagen schon in Gottes Griffweite gerückt. Die AlgerierInnen spielen Alltag, mit dem klammen Gefühl, daß morgen, Freitag, die Stunde aller Gefahren ist, wenn Hunderttausende nach dem Freitagsgebet aus den Moscheen kommen. Die Militärjunta, besagt das letzte Gerücht, plane ein Verbot der Islamischen Heilsfront (FIS) und die erneute Verhängung des Ausnahmezustandes. General Khaled Nezzars Hoher Sicherheitsrat schließt den stählernen Ring um die Städte. Er hat das Volk um seinen Willen betrogen und die Wahlen annulliert. Jetzt bereitet er den Bürgerkrieg vor. An Kreuzungen und vor wichtigen Gebäuden wuchten Soldaten schwere MGs in Stellung. Alles Berufsmilitärs. Sie tragen kugelsichere Westen. Draußen vor der Stadt, wo Panzertruppen und Fallschirmjäger in ständigem Alarm stehen, wird Kriegsmunition ausgegeben. Reisende aus dem Süden berichten von langen Panzerkolonnen. Ein algerischer Kollege hat intensive Aktivitäten um die US-Botschaft ausgemacht. Vor Banken und Pfandleihern, die den schwarzen Markt („Trabendo“) finanzieren, lange Schlangen. Angst vor den Islamisten? „Ach was“, sagt eine Frau im Dior-Kostüm, „ich hole mein Gold zurück, bevor Ghozali und die anderen Bonzen damit abhauen.“

Derweil aktivieren die Islamisten ihre klandestinen Netze. Viele waren von der Geheimpolizei infiltriert, wurden nach dem blutigen Juni 1991 neu geknüpft. Fotokopierer, Akten, Videoausrüstungen, Faxgeräte, Druckmaschinen werden in den Untergrund geschafft. Die provisorische FIS-Führung tagt in wechselnden Moscheen der Vororte von Algier. FIS-Chef Abassi Madani hat aus seiner Militärzelle in Blida Instruktionen übermittelt. Die Islamisten suchen ihre Basis zu beruhigen. In seinem Abendgebet mahnte am Dienstag der FIS-Sprecher Abdel- kadr Hashani die Anhänger zur Ruhe und Disziplin.

Die Islamisten haben Zeit

Bürgerkrieg oder historischer Kompromiß? Die Islamisten haben erst mal Zeit. Sie sind die Wahlsieger und haben eine frische Legitimität. Das Problem stellt sich vorerst den Generälen, die Präsident Chadli Bendjedid gestürzt und die Wahlen annulliert haben. Ihr Staatsstreich liegt offen, seit Abdelmalek Benhabylès, der Präsident des Verfassungsrates, seine Rolle als Interims-Statisten- Präsident nicht mehr spielen will, weil er weiß, „wohin das in der ganzen Welt geführt hat, wenn man den Feinden der Demokratie die Demokratie verweigert“.

Die Generäle zaudern. Am Dienstag richtete Khaled Nezzar in einem ersten Schritt den „Staastrat“ oder, wörtlich, das „Hohes Staatskomitee“ ein. An das neue Gremium gehen, bis zu den hypothetischen Präsidentschaftswahlen irgendwann 1994, alle Kompetenzen des Präsidenten. In Wirklichkeit ist der Staatsrat wohl eher ein Paravent für die Militärjunta. Darauf weist seine Zusammensetzung. Nezzar hat aus Paris eilens den Rektor der Großen Moschee, Tidjiani Haddam, abberufen. Haddam ist ein exzellenter Chirurg, ein „homme de lettre“ und eminenter Korangelehrter, ehemaliger Minister unter Boumediene, aber auch ein ausgewiesener Opportunist. Aus dem marokkanischen Exil ließ Nezzar den Widerstandshelden Mohamed Boudiaf einfliegen. Boudiaf ist einer der Gründerväter des FLN (Mitgliedskarte Nummer 00001) und hat als Exilierter (1964) saubere Hände. Er ist eine historische Figur.

Ihnen zur Seite gestellt wurden der Minister für Menschenrechte, Ali Haroun, ein blasser, aber virulenter Antiislamist, sowie der Präsident der alten Befreiungskämpfer (Mudjahidin), Ali Kafi.

Daß in dem merkwürdigen Gremium kein Kopf von aktuellem Gewicht sitzt und kein Kompromißkandidat für den FIS, wirft ein Schlaglicht auf Nezzars harte Position. Gleichzeitig müht der sich um ein Stückchen Legitimität. „Der Grund ist einfach“, meint ein Politologe der Uni Oran, „der militärisch-industrielle Komplex ist nicht ein Block. Und die Generalität ist sich offenbar nicht einig über die Strategie. Die große Frage“, meint der Analytiker, „heißt: Wer steckt hinter dem neuen starken Mann, Khaled Nezzar?“

Die Armee ist, grob gesagt, in vier Blöcke gespalten. Zum ersten Block sind alle früheren Widerstandskämpfer des Innern zu rechnen. Sie sind klar minoritär und wurden aus allen wichtigen Ämtern entfernt. Die zweite Gruppe umfaßt die Offiziere, die während des Befreiungskrieges die „äußere“ Armee leiteten. Diese „Grenzarmee“ besetzte nach der Unabhängigkeit alle entscheidenden Stellen in Staat und Wirtschaft. Sie begründete den militärisch-industriellen Komplex. Die Armee ist der größte Kapitalist Algeriens. Die Offiziere bestimmten die Industrialisierungspolitik und halten große Teile des algerischen Kapitals. Sie sind der Kern der neuen Bourgeoisie. Und sie haben sich die Reichtümer Algeriens angeeignet. Was die Sache komplex macht, ist der Fakt, daß dieser Block in Clans gespalten ist.

Verflechtung von Militär und Wirtschaft

Die dritte Fraktion bilden die jungen Obristen, die zum Teil in Moskau, aber vorwiegend in Frankreich und in den USA ausgebildet wurden. Sie sind zugleich die Unternehmer neuen Typs. Sie sind politisch liberal und erhoffen sich von einer Öffnung neue Märkte und frisches Kapital.

Der vierte Block faßt die Einberufenen. Sie stellen 50 Prozent der Mannschaft, sind gesellschaftlich aber ohne Macht. Die letzten Jahrgänge wurden nur zu einem Drittel abgerufen und stark gesiebt. Dennoch haben die Islamisten hier starken Zuspruch. „Ich glaube nicht“, sagt der Soziologe und Algerien- Kenner Bruno Etienne, „daß dieser Teil der Armee auf die Islamisten schießt.“ Oberst Chadli Bendjedid stammte, wie die Putschoffiziere, aus dem zweiten Block. Er wurde geschaßt, weil er mit der FIS die Macht teilen wollte. Der Streit ging dabei nicht um die Demokratie oder die Islamische Republik, sondern um wirtschaftliche Positionen und Einfluß. Die Putschisten fürchten nach dem Erdrutsch-Sieg die Zerschlagung des militärisch-industriellen Komplexes und die Jagd auf Schweizer Nummernkonten und ähnliches.

In einem pessimistischen Szenario stehen hinter Nezzar die Offiziere, die das Problem mit einer radikalen militärischen Lösung angehen. Es ist ungewiß, ob die Armee die Auseinandersetzung gewinnen kann. Die Kabylei würde in diesem Szenario sofort die Sezession suchen. Und die wirtschaftliche Entwicklung wäre im Bürgerkriegsfall auf Jahrzehnte blockiert.

Islamo-kapitalistische Region im Maghreb?

Ein Indiz für diese blinde Lösung ist die starke Rolle Sid Ahmed Ghozalis im Putsch. Ghozali hat, erst als Chef der nationalen Ölgesellschaft SONATRACH, dann als Energie- und Finanzminister die schlechte Nutzung der algerischen Erdölrente und den wirtschaftlichen Niedergang an entscheidender Stelle mitangerichtet. Ghozali wäre kaum der Kandidat der anderen Fraktion der Generalität, die der FIS eine Machtteilung ohne soziale Revolution abringen wollen. Sie gehen davon aus, daß die Islamisten nicht aus der algerischen Gesellschaft weggeschossen werden können. In ihrem Szenario überlassen sie den Islamisten die Moral und den Bazar, behalten aber den militärisch-industriellen Komplex, die Außenpolitik und den Weltmarkt. Das Ziel dieser Gruppe ist der islamo-kapitalistische Maghreb.

Saudi-Arabien und die USA machen sich stark für diese Lösung. Ihre erste Sorge heißt: Ruhe im Süden. Und, so ein französischer Berater des Regimes, „das können wir am besten mit den Islamisten erreichen.“