„Wenn die Chemie stirbt, stirbt alles“

Leuna hofft auf Investitionen/ Treuhand-Verwaltungsrat entscheidet heute über Petrochemie  ■ Aus Leuna Erwin Single

Weiße Nebelschwaden kleben an den beiden riesigen Kühltürmen, ein naßkalter Schleier hängt über dem gigantischen Leuna-Komplex, aus dem ein Gestrüpp von Rohrleitungen und Stahlgerüsten in den grauen Himmel ragt. An einigen der Werkstore, die die vier Kilometer lange, schnurgerade gezogene Fabrikmauer der petrochemischen Werke durchbrechen, hängen Schilder. „Hier wird mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Industriegelände saniert“, steht darauf, „1.627 Arbeitnehmer finden so für eineinhalb Jahre Arbeit.“ Dahinter reißen, finanziert von der Bundesanstalt für Arbeit und dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, ehemalige Arbeiter ihre früheren Arbeitsplätze nieder. Leuna I, der vor dem Zweiten Weltkrieg erbaute und nach der Wende Stück für Stück stillgelegte Werksteil, soll Platz schaffen für eine neue Anlage zur Wasserstofferzeugung. Doch ob es zu dem Neubau kommt, wird heute erst bei der Treuhand entschieden.

Mit Hoffen und Bangen schauen die Leunaer nach Berlin. Nach monatelangen Diskussionen um die ostdeutschen Chemiestandorte will der Verwaltungsrat den bisher zweitgrößten Unternehmensverkauf absegnen: Die sanierungsbedürftige Raffinerie Leuna soll gemeinsam mit dem lukrativen ostdeutschen Tankstellennetz Minol an ein Konsortium aus dem französischen Ölkonzern Elf, der Thyssen Handelsunion und der Metro/Asko-Tochter SB-Kauf gehen. Aussichtsreichster Konkurrent ist eine euröpäische Gruppe, die von der Deutschen BP, der italienischen Avia und der französischen Total angeführt werden. „Alle Investoren haben angekündigt, wir sollen die modernste Raffinerie Europas bekommen, daran klammern wir uns natürlich“, bekennt eine Gruppe von Werktätigen, als sie die Schicht verlassen. „Wenn die Chemie stirbt, stirbt hier alles.“

6.000 weitere Beschäftigte werden wohl auf jeden Fall noch entlassen werden. Unabhängig von der bevorstehenden Verkaufsentscheidung will die Geschäftsleitung durch ein mit der Treuhand vereinbartes Sanierungsprogramm gründlich mit der Vergangenheit aufräumen. Das Unternehmen, das im vergangenen Jahr immerhin 2,1 Milliarden Mark umsetzten konnte, schreibt tiefrote Zahlen. Im Sommer bezifferte der für die Chemiebetriebe zuständige Treuhand-Vorständler Wolf Klinz die Verluste von Buna und Leuna auf täglich zwei Millionen Mark.

Über die Hälfte der 27.000 Arbeitsplätze hat das zu DDR-Zeiten technisch fortschrittlichste Chemieunternehmen seit der Wende abgebaut. Unrentable und besonders umweltbelastende Produktionsteile wurden inzwischen eingestellt; zumeist jene Anlagen etwa zur Hochdruck-Ammoniaksynthese oder Vergasung von Braunkohle, die vor Jahrzehnten den guten Ruf des Unternehmens begründeten.

Statt dessen besann man sich auf die Kerngeschäfte: Mit Raffinerieprodukten werden 60 Prozent des Umsatzes erzielt; hinzu kommt die petrochemische Weiterverarbeitung zu organischen Grundchemikalien auf Methanolbasis und die Kunststoffproduktion, die rund ein Fünftel des Umsatzes ausmacht. Als dritter Sanierungsschritt wurden technische Bereiche und Produktionsteile ausgegliedert. Um die Instandhaltung kümmern sich jetzt Privatfirmen; auf einem Teil des Werksgeländes hat die Firma Linde die Produktion für Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff aufgenommen.

Im ersten Stock des rotbraun getünchten Verwaltungsgebäudes kann sich Unternehmenssprecher Werner Kisan nicht vor Anfragen retten. Seit am Wochenende die Verkaufsmeldung durchsickerte, laufen die Drähte heiß. Der Diplomchemiker, der früher in der Forschung gearbeitet hat, runzelt die Stirn: „Mit jedem neuen Herrn und Besitzer werden neue Vorstellungen einziehen. Das erzeugt Unsicherheit, solange man sie nicht kennt.“ Daß es den beiden konkurrierenden Gruppen vornehmlich ums Öl und vorrangig um die lukrative Minol-Kette geht, ist auch der Unternehmensleitung klar. Nicht wenige befürchten, die neuen Herren könnten die Petrochemie bald abwickeln. Detailkonzepte, so beteuert die rechte Hand des Vorstandchefs Werner Daßler, lägen der Geschäftsführung nicht vor. Was wird vom Standort Leuna bleiben? „Hoffentlich viel“, so Kisan, „Was wir uns wünschen ist, daß die neuen Eigentümer in Leuna nicht nur eine Raffinerie sehen.“

Die Raffinerie, glaubt die Geschäftsführung, steht trotz ihrer kleinen Kapazität von nur fünf Millionen Jahrestonnen gut da; um rentabel zu sein, müßte sie aber um das Doppelte erweitert werden. Leunas Lage im bundesdeutschen Südosten scheint günstig, doch es fehlt ihr eine Anbindung an das westeuropäische Pipeline-Netz, um sie vom Sowjetöl unabhängig zu machen. Lieferengpässe der GUS-Staaten, vornehmlich Rußlands, hatten in den vergangenen Wochen den Betrieb ins Stocken geraten lassen. Auch hier haben die Interessenten Abhilfe versprochen. Daß die Lichter in Leuna ausgehen, glaubt Kisan nicht: McKinsey habe vorgerechnet, daß eine Stillegung mit 5,7 Milliarden Mark teurer komme als die mit 4,7 Milliarden veranschlagte Sanierung.

Im Block 200, wo der Leuna-Betriebsrat residiert, scheint man etwas mehr zu wissen. Gerade der auch stark in der Petrochemie engagierte Multi Elf, hieß es dort, habe Interesse am chemischen Standbein samt dem Forschungsbereich bekundet und weitgehende Bestandsgarantien angeboten. Die Synergieeffekte bei der Petrochemie, also der Weiterverarbeitung von Ölresten, werden von McKinsey auf rund 100 Millionen Mark beziffert.

Doch daß bei Übernahmeverhandlungen viel versprochen und nachher nicht eingehalten wird, wissen auch die Belegschaftsvertreter. Noch glauben sie fest an ein zufriedenstellendes Treuhand-Konzept. Im Sommer feierte das Unternehmen sein 75jähriges Firmenjubiläum. Im Ersten Weltkrieg zur Munitionsherstellung aus dem Boden gestampft, wurde das Werk unter den Nazis in den IG-Farben-Komplex eingegliedert. Werner Kisan bleibt Zweckoptimist: „Schon zweimal schien Leuna am Ende seiner Existenz zu stehen, und jedesmal ging es doch weiter. Warum sollte es ausgerechnet jetzt anders sein, wo wir gute Ausgangsbedingungen haben?“