„Das waren nicht nur Scheinwahlen“

Der Friedenskreis Dresden-Johannstadt forderte schon im Juni 1989, den Wahlbetrug aufzuklären/ Reale Zahlen wären „Signal“ gewesen/ Briefe und Unterschriftenlisten blieben unbeantwortet  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Bei der öffentlichen Auszählung der Stimmen im Wahllokal 10b im Dresdner Stadtzentrum notierte sich Jürgen Bönninger am Abend des 7.Mai 1989, daß sich von den 452 abgegebenen Stimmen 417 für die Einheitsliste der Nationalen Front zur Stadtverordnetenversammlung entschieden hatten. 34 Stimmen waren „gegen den Wahlvorschlag der Nationalen Front“ abgegeben worden, ein Stimmzettel war ungültig. Ähnliche Zahlen wurden auch für die Stadtbezirksversammlung Mitte festgestellt.

Wie Bönninger waren an diesem Abend die Mitglieder des Friedenskreises Dresden-Johannstadt und anderer Initiativen in 237 der etwa 400 Wahllokale Dresdens unterwegs, um die Auszählung zu kontrollieren und sich eine eigene Statistik zu erarbeiten.

Mit seiner Zeugenaussage im Wahlfälschungsprozeß gegen Berghofer und Moke widersprach jetzt der Friedenskreis-Aktivist besonders einseitigen Interpretationen der DDR-Wahlen als „reine Scheinwahlen“. Für die vielerorts, besonders unter dem Dach der Kirche, entstandenen Initiativen waren die 89er Kommunalwahlen nicht nur Selbstbefriedigung einer paranoiden Führung.

„Wir haben uns ernsthaft mit dem Wahlgesetz auseinandergesetzt, und trotz dessen tendenziöser Ausrichtung auf die Einheitsliste hat es wenige demokratische Grundsätze geboten, die wir ausnutzen wollten“, erklärte der Zeuge vor Gericht. Für ihn hätten diese Wahlen eine gewisse Möglichkeit geboten, sich politisch zu artikulieren. Immerhin hatte die SED erstmals erklären müssen, daß sie an realen Wahlergebnissen interessiert sei. Sollte es nämlich gelingen, der SED ein reales Ergebnis abzuringen, so die damalige Auffassung des Kreises, wäre das ein Signal auch für die anderen BürgerInnen, ihren politischen Willen deutlich zu machen.

Eine der „Anlaufstellen“ für die Kontrolleure war Superintendent Christof Ziemer. Dieser erhob wenige Tage nach der Wahl Einspruch bei Oberbürgermeister Berghofer, wurde aber an eine Mitarbeiterin abgewiesen. Der Johannstädter Kreis hatte festgestellt, daß sich die Zahl der Gegenstimmen in den von ihnen kontrollierten Wahllokalen bei elf bis zwölf Prozent einpegelte. Wenngleich, wie der Zeuge erläuterte, die öffentliche Auszählung korrekt verlaufen war, mußte die Analyse doch nur Fragment bleiben, da nirgends zu erfahren war, wie viele Wahllokale für wie viele Wahlberechtigte geöffnet hatten.

Auch Vergleiche mit den offiziellen Wahlergebnissen hatten Lücken, denn die Statistiken aus den fünf Stadtbezirksversammlungen wurden nie veröffentlicht. Am 11. Mai richtete das Arbeitskollektiv des Zeugen Bönninger einen Brief an den Staatsrat, worin sie die Bekanntgabe der Stadtbezirksergebnisse forderten. Eine Antwort erhielt es nicht. Mit 156 Unterschriften versehen war ein Brief an den Präsidenten des Nationalrates der Nationalen Front, Lothar Colditz. Darin bemängelten sie, daß die Stimmen aus den Sonderwahllokalen nicht öffentlich ausgezählt wurden und daß an den Urnen die Wahlbeteiligung nicht festzustellen war. Schließlich erhoben die Unterzeichnenden den „schwerwiegenden Verdacht des Wahlbetruges“ und baten um Aufklärung. Der parteilose Colditz hat ebenfalls gar nicht erst geantwortet.