HVA-Oberst: Überläufer Tiedge war ein „Glücksfall“

Düsseldorf (taz) — Der im Sommer 1985 in die damalige DDR übergelaufene Chef der westdeutschen Spionageabwehr, Hansjoachim Tiedge, hat ohne jeden vorherigen Kontakt zum DDR-Geheimdienst die Fronten gewechselt. Tiedge sei für die DDR-Aufklärung ein „großer Glücksfall“ gewesen, sagte der frühere Oberst der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Gunther Nehls, am Dienstag im Prozeß gegen den Ex-Verfassungsschützer Klaus Kuron vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf.

In der vergangenen Woche hatte Kuron, der im Kölner Amt acht Jahre als „HVA-Maulwurf“ arbeitete, ausgesagt, Tiedge sei schon etwa zwei Monate vor seiner Flucht von der Ostberliner Spionagetruppe angeworben worden. Offenbar eine HVA-Ente, wie Oberst Nehls im Gerichtssaal darlegte, denn die Version sei von der HVA bewußt gestreut worden, um die westdeutsche Seite zu irritieren und Kuron zu schützen. Tiedges Übertritt war der HVA willkommener Anlaß, einen von Kuron verratenen Doppelagenten zu verhaften und kurz vor der Enttarnung stehende Ostagenten — auch diese Information hatte Kuron geliefert — in Westdeutschland zu warnen. Nehls, jahrelang Kurons oberster Führungsoffizier, begründete seine Aussagebereitschaft mit dem Geständnis von Kuron. Nachdem der sich den Behörden offenbart habe, sei auch er bereit gewesen „zur Aufklärung beizutragen“.

Gegen die reuigen Ostagentenführer Nehls und Stefan Engelmann, der am Nachmittag aussagte, wird die Bundesanwaltschaft „voraussichtlich keine Anklage erheben“. Kurons Verteidiger Werner Leitner beantragte am Dienstag den früheren DDR-Spionagechef Markus Wolf als Zeuge zu laden. Wolf werde bekunden, daß Kuron sich um den Austausch des von ihm verratenen Doppelagenten Horst Garau bemüht und Wolf ihm den Austausch auch zugesichert habe. Die Frage ist deshalb so brisant, weil der in der DDR zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Garau drei Jahre später erhängt in seiner Zelle aufgefunden wurde. Selbstmord hieß es offiziell, es war Mord, behauptet Garaus Witwe. J.S.