Alle gegen Präsident Collor de Mello

Brasiliens Skandal um Rentenerhöhungen stellt das IWF-Abkommen in Frage/ Soziales Chaos droht  ■ Von Astrid Prange

Rio de Janeiro (taz) — Tief, tiefer, am tiefsten: Die brasilianische Regierung gerät immer weiter in die Klemme. Präsident Fernando Collor de Mello hat sich mit seiner Weigerung, die Renten um 147 Prozent zu erhöhen, nicht nur den Haß von zwölf Millionen SeniorInnen auf sich gezogen. Nun schaltete sich auch noch der Internationale Währungsfonds (IWF) in den Skandal der nationalen Renten- und Krankenversicherung Previdencia Social ein. Die Vertreter des IWF möchten von der brasilianischen Regierung gerne wissen, woher sie das Geld nimmt, um die von der Justiz erzwungene Rentenerhöhung zu zahlen. Das Land droht im sozialen Chaos zu versinken.

Bei dem Streit zwischen RentnerInnen und der Regierung geht es immerhin um zehn Milliarden US-Dollar. Diese enorme Summe wäre nach Berechnungen des Kabinetts erforderlich, um die Renten landesweit um 147 Prozent anzuheben, wie es die Justiz verlangt. Collor sieht sich dazu jedoch außerstande: „Die Anhebung der Renten begräbt das System ein für allemal. Die Previdencia Social überlebt das nicht“, erklärte er gestern vor Offizieren der brasilianischen Luftwaffe. Vor dem auserwählten Publikum beklagte sich der Präsident über seine zunehmende politische Isolierung: Noch nie in der brasilianischen Geschichte habe sich eine Regierung gegen so viele Zweifel und Angriffe zur Wehr setzen müssen.

Die Previdencia Social hatte den zwölf Millionen RuheständlerInnen vor zwei Monaten Rentenerhöhungen von rund 50 Prozent angeboten— bei einer monatlichen Inflation von über 20 Prozent ein bescheidener Prozentsatz. Doch die RentnerInnen zogen vor Gericht und errangen einen Sieg nach dem anderen. Ergebnis: Die Regierung muß kräftig drauflegen. Nach dem Obersten Gerichtshof steht nun nur noch ein Urteil des Supremo Tribunal Federal, des brasilianischen Verfassungsgerichts, aus. Das endgültige Verdikt soll im März fallen.

Bis dahin hat die Regierung Collor jedoch keine Zeit. Bereits jetzt stehen die RentnerInnen vor den Banken Schlange, um sich ihr Geld abzuholen. „Die Leute werden alles kurz und klein schlagen, weil kein Geld vorhanden ist, um der Anweisung des Gerichtshofs Folge zu leisten“, prophezeit Justizminister Jarbas Passarinho. Passarinho war Vorsitzender der Previdencia Social während der Militärdiktatur unter Präsident Joao Figueiredo (1979-1984). In Rio, wo in der vergangenen Woche ein 79jähriger nach stundenlangem Warten in der prallen Sonne einen Herzinfarkt erlitt, ist die Verbitterung besonders groß.

Zu allem Überfluß schaltete sich gestern auch noch der Weltwährungsfonds in die Diskussion ein. IWF-Vertreter in der Hauptstadt Brasilia zweifelten angesichts der neuen Umstände daran, daß Brasilien in diesem Jahr einen Haushaltsüberschuß von sechs Milliarden Dollar produzieren wird. Dieses Ziel ist jedoch eine der Voraussetzungen für die geplante Unterzeichnung des IWF-Abkommens, nach dem die brasilianischen Auslandsschulden von rund 120 Milliarden US-Dollar reduziert werden sollen. Der Regierung läuft die Zeit davon; der IWF- Kontrakt soll am 22. Januar ratifiziert werden. In London beteuerte der Vorsitzende der brasilianischen Zentralbank, Fransisco Gros, gegenüber Vertretern der britischen Gläubigerbanken Lloyds und Midland, daß Brasilien nicht die Notenpresse benutzen würde, um die Rentenerhöhungen zu finanzieren. Die Lasten müßten vielmehr von der gesamten Gesellschaft getragen werden, sollte es der Regierung nicht gelingen, in letzter Instanz den RentnerInnen ihren Rechtsanspruch doch noch streitig zu machen.

Doch bei der „allgemeinen Verteilung der Lasten“ stellen sich die brasilianischen Parlamentarier quer. Trotz mehrfacher Appelle von Präsident Collor an ihr „grün-gelbes Herz“, die Nationalfarben der brasilianischen Flagge, blieben die Abgeordneten des Senats und der Kammer verschlossen: Sie schmetterten einstimmig eine Gesetzesvorlage ab, wonach die monatlichen Beiträge für Unter- und Arbeitnehmer ansteigen sollen. Die meisten Parlamentarier halten die Berechnungen von Präsident Collor für übertrieben: „Die Regierung will mit dem Geld der Rentner Kasse machen“, so der Abgeordnete Antonio Brito aus dem Bundesstaat Bahia. Der Druck des Währungsfonds, als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ kritisiert, verstärke die Ablehnung zusätzlich. „Die Regierung mißbraucht die Rentner dazu, ihre Probleme mit dem Währungsfonds zu lösen“, empörte sich José Genoino, Fraktionsvorsitzender der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) im Kongreß.

Der Ruf der brasilianischen Renten- und Krankenversicherung ist denkbar schlecht. Nach eigenen Angaben des brasilianischen Arbeitsministeriums stehen der Previdencia Social nur 40 Prozent ihres Milliardenhaushaltes zur Verfügung. Den gleichen Anteil würden die Unternehmen schlichtweg hinterziehen, und mit den restlichen 20 Prozent decke der Bund vorübergehende Haushaltslöcher. Dazu gehört auch die Finanzierung der Demarkierung des Reservats der Yanomami-Indianer, wie die brasilianische Zeitschrift 'Veja‘ herausfand. Ganz zu schweigen von den 30 Millionen BrasilianerInnen, immerhin 48 Prozent der ArbeitnehmerInnen, die ohne Lohnsteuerkarte arbeiten. Durch die „wahrhaft inkompetente Verwaltung“ (Previdencia-Vorsitzender José Arnaldo Rossi) werden die strukturellen Probleme noch verschlimmert: Allein in Rio de Janeiro beziehen beispielsweise 45.000 tote RentnerInnen weiterhin ihre Pensionen.

Gewerkschaftsführer Jair Meneguelli interpretiert die apokalyptischen Äußerungen von Präsident Collor als politisches Erpressungsmanöver. „Wir wittern dahinter ein heimliches Vorhaben“, argwöhnt der Vorsitzende der größten brasilianischen Gewerkschaft CUT: „Collor läßt das nationale Sozialversicherungssystem verkommen, um es anschließend zu privatisieren.“