Verfassung: Das Volk darf abstimmen

In der gestern erstmals zusammengetretenen Verfassungskommision aus Bundestag und Bundesrat zeichnet sich eine Einigung für eine Volksabstimmung zum erneuerten Grundgesetz ab  ■ Aus Bonn Tissy Bruhns

Als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth die Verfassungskommission zu ihrer ersten Sitzung begrüßte, hatte Wolfgang Schäuble im Bundestag gerade kräftige Akzente gesetzt. Der Fraktionsvorsitzende der Union will den Aktionsradius der Bundeswehr erweitern und bedrängte die SPD, einer entsprechenden Grundgesetzänderung bald zuzustimmen, notfalls vorab. Mit einem anderen Verfassungsthema hatte die führende Regierungspartei gleich zu Jahresbeginn wieder aufgewartet: Asyl.

Zur ursprünglichen Agenda der Verfassungskommission zählen beide Themen nicht. Nur widerwillig hatten sich die Regierungsparteien bereit gefunden, sich mit der „Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes“ zu beschäftigen, die Artikel 5 des Einigungsvertrages verlangt. Und so ist nicht nur viel Zeit vergangen, auch die Impulse, die 1990 zu diesem Auftrag geführt haben, sind heute matter. Der Runde Tisch und sein Verfassungsentwurf scheinen nach nur einem Jahr deutscher Einheit wie lang zurückliegende Vergangenheit. Wolfgang Ullmann, Bundestagsabgeordneter des Bündnis 90, der an der Verfassungsdebatte des Runden Tischs mitgewirkt und den Verfassungsvorschlag des „Kuratoriums für einen verfaßten Bund deutscher Länder“ vom Sommer 1991 mitverfaßt hat, begrüßte denn auch, „daß die obersten Verfassungsorgane nun endlich die Debatte eröffnen, die eigentlich am Anfang der deutschen Einigung hätte stehen müssen“. Er wird in der 64köpfigen, je zur Hälfte aus Bundestags- und Bundesratsvertretern besetzten Kommission vertreten, daß das vereinigte Deutschland eine Verfassung braucht, die schließlich von allen Bürgerinnen und Bürgern in Kraft gesetzt wird.

Grüne und Bündnis 90 wollen kein neues Grundgesetz, aber eine Ergänzung um positive Staatsziele wie das Recht auf Arbeit und Wohnen, die Gleichstellung der Frauen oder den Umweltschutz. Schließlich sollen plebiszitäre Elemente, die in einigen Länderverfassungen verankert sind, auch im Grundgesetz festgeschrieben werden. Die SPD, die führende Köpfe wie Herta Däubler-Gmelin und Hans-Jochen Vogel in die Kommission geschickt hat, ist von diesen Vorstellungen nicht weit entfernt — ganz anders als die Vertreter der Regierungsparteien. Mit Ausnahme einer vage formulierten Umweltschutznorm lehnen Liberale und Christdemokraten positive Staatsziele ab. Gegen plebiszitäre Formen halten FDP wie Union die reine, repräsentative Demokratie hoch und verweisen auf die schlechte Weimarer Erfahrung.

Neben Staatszielen und Plebiszit wird das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, die ohnehin überfällige Durchforstung der föderalen Struktur, Thema der Kommission sein. Während die Grünen größere Länderkompetenzen erhoffen, wird aus dem liberalen Lager für eine Neuordnung der Länder geworben. Schließlich werden sich die Verfassungspolitiker mit der zukünftigen Ebene Europa beschäftigen müssen.

Überraschende Übereinstimmung deutet sich mittlerweile in einem Punkt ab, der zunächst heiß umstritten schien. Soll das Volk selbst oder sollen nur Bundestag und Bundesrat über das Ergebnis der Verfassungsberatungen abstimmen? Das Regierungslager schwenkt ein. Justizminister Klaus Kinkel, der für die FDP in der Kommission sitzt, kann sich eine Volksabstimmung inzwischen vorstellen. Rupert Scholz, Staatsrechtler und Ex-Verteidigungsminister, hält zwar noch die Grundposition der Unionsparteien aufrecht: Die Bürger der ehemaligen DDR haben den Beitritt zur Bundesrepublik und zum Grundgesetz nach Artikel 23 vollzogen.

Es ist damit die gültige Verfassung aller Bürger. Aber einen Prinzipienstreit will die Union nicht. Ohne oder gegen sie wird in der Verfassungskommission schließlich nichts zustande kommen. Für Wolfgang Ullmann ist die Abstimmung aller Bürgerinnen und Bürger eine elementare Frage. Er will die Anwendung des Artikels 146, eine durch das Volk legitimierte Verfassung für das neu entstandene Deutschland. Aber was wird sie enthalten, wenn die Arbeit der Kommission abgeschlossen ist?