»Ich bin kein Antisemit«, aber ...

■ Wilmersdorfer Bürger wollen keine Straßenrückbenennungen/ Vehementer Widerstand gegen jüdische Straßennamen, auch wenn es die Nazis waren, die sie aus dem Stadtbild entfernten/ Das Anfertigen neuer Visitenkarten sei zu teuer

Berlin. Man muß nicht den 'Spiegel' lesen, um zu erfahren, daß die Mehrheit der Deutschen Juden behandelt, »als sei Auschwitz ein Stück Geschichte ohne Beziehung zum eigenen Leben«. Kommen Sie einfach nach Wilmersdorf. Juden, ist man dort überzeugt, sind Leute wie andere auch. Die Ablehnung von Sonderwünschen macht einen ja wohl nicht zum Antisemiten, oder? Bei der öffentlichen Anhörung des Bezirksamtes Wilmersdorf am Donnerstag abend ging es fast zu wie bei den Anonymen Alkoholikern. Fast jeder Sprecher leitete seinen Protest mit den Worten ein: »Ich bin kein Antisemit.«

Anlaß der Veranstaltung war die geplante Umbenennung des Dünkelbergssteigs, Seebergsteigs und der Schellendorfstraße in Wilmersdorf. Die drei Straßen trugen einst die Namen der jüdischen Mitbürger Morgenroth, Friedenthal und Duncker, bevor sie von den Nazis umbenannt wurden.

Im März 1991 beschloß die Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf mit den Stimmen von SPD und AL die Rückbenennung der drei Straßen. Bei einer anschließenden Umfrage sprachen sich jedoch fast hundert Prozent der Anwohner gegen die Rückbenennung aus. Die Hoffnung des Bezirksamtes, die Anwohner auf der Veranstaltung am Donnerstag doch noch zu überzeugen, scheiterte grandios.

»Eine Klage ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, schleuderte ein erboster Bürger dem AL-Baustadtrat Uwe Szelag entgegen. Der hatte in der eigentlich für Sozialdemokraten typischen Mischung aus Fairneß und Dummheit klargemacht, daß das Bezirksamt die Straßen auch gegen den Widerstand der Anwohner rückbenennen wird und dann die Klagemöglichkeiten der Bürger erläutert. Die Vollmundigkeit mit der Sozialdemokraten gelegentlich mehr plebiszitäre Elemente in der Demokratie einfordern, schlug naturgemäß voll zurück: »Warum werden wir gezwungen zu klagen, wenn sich 90 Prozent gegen die Umbenennung aussprechen?«

Die Wilmersdorfer sind felsenfest entschlossen, die Rückbenennung objektiv zu behandeln: »Es geht nicht um jüdische Namen, sondern darum, daß wir generell gegen eine Umbenennung sind.« Nachdem man sich auf diese Weise des delikaten Themas entledigt hat, will sich die Versammlung endlich dem eigentlichen Skandal widmen: der schändlichen Mißachtung des Bürgerwillens und der Kosten. Als der Historiker Götz Aly über die Ermordung der europäischen Juden spricht und »die paar Groschen« erwähnt, die neue Visitenkarten und Geschäftsbriefpapier kosten werden, wird ihm unmißverständlich klargemacht: »Paar Groschen? Sie sollten mal in der freien Wirtschaft arbeiten. Sie müssen das ja nicht bezahlen.« Er wird bereits niedergebrüllt, als die Diskussion gerade mal zwei Minuten in Gange ist.

Der Hinweis auf die Hunderttausenden, die im Ostteil der Stadt für Straßenumbenennungen und den Abriß von Denkmälern geopfert werden, verfängt ebensowenig wie die Mahnung, daß von den wohlhabenden Wilmersdorfer Großbürgern wohl Ähnliches verlangt werden könne, was den armen Ostschluckern derzeit ohne weiteres zugemutet werde. Aber es geht natürlich gar nicht um die Kosten. Der erbitterte Widerstand richtet sich vielmehr gegen die angebliche geschichtliche Zwangsbelehrung. Man wird ja wohl noch über Straßenschilder diskutieren können, ohne gleich Auschwitz unter die Nase gerieben zu bekommen.

In geradezu begnadet anmutender Unbedarftheit verkündet ein Geschäftsmann, Hand aufs Herz: »Nicht einmal in meinem großen jüdischen Freundeskreis kann man diese Umbenennung verstehen.« Ein jüdischer Bürger reagiert empört. Er habe geglaubt, die Umbenennung den anständigen Bürgern überlassen zu können. Was er sagt, wird als Provokation zurückgewiesen. Zum Beweis ihrer Anständigkeit schlägt eine Dame vor, drei Straßen in Ost-Berlin mit den getilgten jüdischen Namen zu belegen. Da sei ja wohl Bedarf an neuen Straßennamen.

An diesem Punkt der Diskussion erhebt sich ein alter Mann und sagt: »Ich bin für eine Rückbenennung aus dem Gedanken der Wiedergutmachung, und Wiedergutmachung bedeutet die Herstellung des früheren Zustandes. Eine andere Straße genügt nicht. Dies wäre eine Ersatzwiedergutmachung, die nur dann annehmbar ist, wenn die Wiederherstellung des früheren Zustandes objektiv unmöglich ist.« Einen Moment scheint es, als zerrisse eine Wolkendecke und brächen ein paar Sonnenstrahlen durch. Aber es hat keinen Sinn. Tosender Beifall für den Mann, der ihm entgegnet, nach fünfzig Jahren sei Wiedergutmachung nicht mehr nachvollziehbar. Nicht, wenn geheiligte materielle Werte wie Visitenkarten auf dem Spiel stehen. Anja Seeliger