Respektlos flüsternd

■ Degas' Skulpturen und Vuillards Bilder in Amsterdam

Für öffentliche Ausstellungen waren 73 der 74 kleinen Skulpturen, die zur Zeit das Amsterdamer „Rijksmuseum Vincent van Gogh“ im Erdgeschoß zeigt, eigentlich nie bestimmt.

Einzig die Tänzerin von vierzehn Jahren, bekleidet mit einem echten Tutu und Ballettschuhen, hatte Edgar Degas selbst 1881 bei der 6. Impressionistenausstellung in Paris ausgestellt und damit eine erbitterte Kontroverse unter den zeitgenössischen Kunstkritikern ausgelöst. Alle anderen Plastiken verstand der Maler als Experimente. „Ich modellierte Pferde und Personen in Wachs für mich selbst. Nicht um das Malen und Zeichnen aufzugeben, sondern um meinen Gemälden und Zeichnungen mehr Ausdruck zu verleihen, sie seelenvoller und lebendiger zu machen“, erklärte Degas dem Kunstjournalisten Fran¿ois Thiébault- Sisson. „Es sind für mich Übungen zum Aufwärmen, mehr nicht. Keine der Figuren ist für den Verkauf gedacht.“ Entsprechend wurden die Figuren in seinem Atelier behandelt. Über den Zustand, den er dort 1917 nach dem Tod Degas' vorfand, berichtete der mit ihm befreundete Kunsthändler Joseph Durand-Ruel später: „Als ich Degas' Besitz inventarisierte, fand ich etwa 150 Stücke, die über seine drei Stockwerke verstreut herumlagen. Die meisten waren zerbrochen, von anderen war fast nichts mehr übrig.“ Die ramponierten Skulpturen, ein Materialmischmasch aus instabilen Gerippekonstruktionen, brüchigem Plastilin, sprödem Kork und Wachsamalgamen, übergab Durand-Ruel dem Bildhauer Albert Bartholomé, der sie restaurierte und ab 1919 gemeinsam mit Adrien Hébrard von 72 Plastiken je 22 Bronzeabgüsse anfertigte. Erst 1921, vier Jahre nach Degas' Tod, wurden seine Skulpturen in Hébrards Galerie an der Rue Royale zum ersten Mal öffentlich ausgestellt.

Der komplette Satz, den noch bis Ende Februar das Van-Gogh-Museum zeigt, stammt aus der Sammlung des Museo de Arte de Sao Paulo. In vier großen Glasvitrinen thematisch gruppiert, vermitteln sie einen Eindruck von der selten gezeigten impressionistischen Bildhauerkunst, so umfassend und exemplarisch ist sie in Europa lange nicht dokumentiert gewesen. Neu und aufregend sind dabei weniger Degas' Motive: Tänzerinnen, Pferde und badende Frauen, die auch in der massiven metallenen Dreidimensionalität nichts von ihrer Leichtigkeit und Grazie verloren haben. Sie sind von den Tafelbildern zur Genüge bekannt. Aufregend ist, auf welch unkonventionelle Weise Degas mit dem Medium Skulptur umspringt. Hatte die für die Ewigkeit in Stein gehauene oder in Metall gegossene Plastik bis dahin den aus der Antike übernommenen Mythos der höchsten Form bildnerischer Idealisierung förmlich verkörpert, nähert sich Degas ihr unvoreingenommen und respektlos. Für ihn gibt es kein Motiv mehr, das nicht auch der Ausführung würdig wäre. In den gezeigten Abgüssen sind noch die Fingerspuren zu sehen, mit denen Degas aus der spontanen Impression heraus die Ballettratten der Pariser Oper und die Rennpferde der Rennbahnen modellierte.

Es muß glückliche Fügung oder geniale Inspiration gewesen sein: Zeitgleich zu den Degas-Skulpturen zeigt das Van-Gogh-Museum eine aus London übernommene Retrospektive mit rund hundert Gemälden, Zeichnungen und Fotografien des französischen Postimpressionisten Edouard Vuillard (1868 bis 1940). Obwohl die Werke beider Künstler räumlich durch zwei Stockwerke voneinander getrennt sind, treten sie miteinander in einen stillen Dialog. Denn wie die Skulpturen von Degas scheinen auch Vuillards pastellene Bilderwelten nie für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt gewesen zu sein. Intime Interieurs und zarte Zimmerszenen, die jeglichen Voyeurismus entbehren, wirken gleichfalls wie flüchtige Skizzen an der Grenze zwischen Abbildung und Abstraktion. Die dargestellten Personen, meist nur im Profil oder von hinten und nur ganz selten als Porträt angelegt, sind in diesen Bildern oft nicht mehr als einer von vielen Tupfern im verschwimmenden harmonischen Farbengewirr. Der Realismus ist der Empfindung gewichen, der Schritt ins zwanzigste Jahrhundert gemacht.

Auch Vuillard suchte nach neuen Möglichkeiten für sein Medium, die Malerei, und wie Degas hatte auch er keine Scheu, die Kunst für die Themen der alltäglichen und selbst persönlichsten Alltagserfahrungen zu öffnen. „Vuillard flüstert fast, und wir müssen unser Ohr ganz dicht an ihn legen, um hören zu können, was er zu sagen hat“, schrieb André Gide 1905 in der 'Gazette des Beaux Arts‘. Das Rijksmuseum Vincent van Gogh stellt ihn nun als einen von zwei Erneuerern der klassischen Moderne vor, die im lauten Konzert der Auktionsrekorde und werbewirksam inszenierten Großausstellungen oft überhört werden. Stefan Koldehoff

Edgar Degas als Bildhauer. Noch bis zum 23.Februar 1992, Katalog: 65 Seiten mit zahlreichen Farbabbildungen, 22,50 Hfl.

Edouard Vuillard, Werke 1888-1928 . Noch bis 8.März 1992, Katalog: 105 Seiten mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen, 35 Hfl. Im Rijksmuseum Vincent van Gogh, Amsterdam