Heimweh und rettende Ufer

Allgemeine Bemerkungen zur Geschichte des jiddischen Kinos und zur Filmreihe im Berliner „Arsenal“-Kino  ■ Von Miriam Niroumand

In David Mamets Homicide, noch immer in einigen deutschen Kinos zu sehen, wird ein Kommissar durch den Mord an einer alten jüdischen Ladenbesitzerin mit seiner bis dahin verleugneten jüdischen Herkunft konfrontiert. Seine Abneigung gegen „diese (seine) Leute“ erreicht ihren Höhepunkt, als er einen Rabbi Beileidsbezeugungen in Jiddisch machen hört. Irgendwann siegt aber dennoch sein Zugehörigkeitsgefühl, und er schließt sich einer bewaffneten zionistischen Gruppe an, was ihn letztlich seinen Job in der Welt der Goim, der Nicht-Juden, kostet.

Im Hollywood-Stakkato läßt der Film mehrere Positionen des amerikanischen Judentums aufblitzen: der alte osteuropäische Immigrant, der die religiöse Tradition vertritt; die großbürgerliche, religiös-liberale Familie; der vollständig Assimilierte und die politisch radikalen Zionisten. Daß die jiddischen Sequenzen des Films selbst auf den New Yorker Filmfestspielen mit Untertiteln gezeigt wurden, belegt wie der gesamte Film, daß hier eine Tradition vom Einschmelzen im amerikanischen Melting Pot bedroht ist, die bei Strafe des Identitätsverlusts bewahrt werden soll.

Neu ist diese Situation nicht. Das gesamte jiddische Kino, von seinen Anfängen im russischen Reich bis zu seinem Tiefpunkt im Zweiten Weltkrieg, hat in diesem Spagat zwischen Tradition und Moderne, Partikularismus und Integration gestanden. In Bridge of Light, einer der schönsten Geschichten eines Minderheiten-Kinos, vergleicht der amerikanische Filmkritiker Jim Hoberman die spezielle Situation des jiddischen Films mit einer brennenden Brücke — wenn die Lage nur prekär war, war sie gut, meist war die Bedrohung existentiell, die innere und äußere Bedrängnis eine stete Zerreißprobe.

Das fängt mit der Sprache selbst an. Jiddisch, dieses Amalgam aus Mitteldeutsch, Bairisch, Hebräisch, Aramäisch und Slawisch, war zunächst die Sprache aller Ashkenazim (mitteleuropäischer Juden). Im Kinozeitalter wurde es dann aber zur Sprache der Unterschichten, der volkstümlichen Chassidim (osteuropäische Frömmigkeitsbewegung), der marginalisierten shtetl-Bewohner, aber auch die der osteuropäischen Sozialisten und der „Jiddischisten“, die zwar ein antireligiöses Nationalgefühl pflegten, aber gegen die zionistische Errichtung eines Staates waren. Damit steht es zwischen zwei Stühlen: für die „aufgeklärten“, assimilierten Juden ist es die Sprache jüdischer Insularität, für die streng religiösen fehlt ihm die Autorität des biblischen Hebräisch.

So stand auch das Publikum für die Anfänge des jiddischen Films gleich fest: Die ersten amerikanischen Kinos — ohnehin dunkle Höhlen lärmenden Massenvergnügens — wurden von Arbeitern und Immigranten, Näherinnen und Handwerkern frequentiert. Angefangen hatte aber alles in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf dem platten Lande zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, dem Gebiet, auf das die jüdische Bevölkerung Rußlands konzentriert (und beschränkt worden) war. Fahrende Truppen mit Orgelspielern und Volkssängern führten erste Kurzfilme — Reiseberichte oder Kurzdramen — vor, die von einem Schauspieler oder Grammophon hinter einem Vorhang mit Musik oder Text beschallt wurden.

Aus dieser Primitivform des Tonfilms entstand 1912 A Brivele der Mamen (Ein Brieflein an die Mutter), die verfilmte Ballade einer in der Alten Welt von ihrem Immigrantensohn zurückgelassenen Mutter, die zusehen muß, wie ihre Familie zerfällt. Bis zum Ersten Weltkrieg ist es so ähnlich weitergegangen: Es wurden hauptsächlich jiddische Balladen und Theaterstücke verfilmt, meist in Warschau, mit „Bühnenmaterial“ aus New York. Auch hierin zeigt sich eine Besonderheit des jiddischen Kinos: Es war immer gleichzeitig national und kosmopolitisch, weil ja eben eine „Nation ohne Land“ bespielt wurde. Waren den frühen Immigranten die Verfilmungen jiddischer Stücke ein Gegengift zum Heimweh, zeigten die Nickelodeons einige Jahre später schon „Ghetto-Romanzen“ und Filme über Pogrome in Rußland, in denen Amerika als rettendes Ufer erscheint. Nach dem Krieg lockerte sich der enge Zusammenhang zwischen Bühne und Film, und die Stummfilme der frühen zwanziger Jahre verfilmen Erzählungen von Sholom Aleichem, Isaac Babel und anderen, denen das jiddische Kino seine Typengalerie verdankt: den Luftmentsh, der tausend Projekte im Kopf hat, in die man besser kein Geld investiert, weil sie auf tönernen Füßen stehen; das Maidele in amourösen Konflikten; den düsteren Jeschiwe-Studenten, der über der Tora brütend dumpf vor sich hin murmelt; Milchmann Tevye, Fiddler, Schlemiehl; und den Allrightnik, dem Immigranten, der es in Amerika zu etwas gebracht hat und der sich nun dickbäuchig durch die Gegend schiebt; oder die ewig leidende, sich für ihre Kinder aufopfernde jiddische Mame, die speziell ihre Söhne stets in einem terrestrischen Fegefeuer des schlechten Gewissens zu halten weiß.

Auch die avantgardistischen Strömungen der Zeit, Expressionismus, Kubismus, Symbolismus oder Futurismus, werden ins jiddische Kino inkorporiert. Einer der berühmtesten jiddischen Filme, Paul Wegeners Der Golem von 1920, ein Vorfahre von Nosferatu, Frankenstein und anderen Homunculi, ist in seiner düsteren Prager Szenerie und seinen expressionistischen Schattenspielen das Schulbeispiel für die westliche Assoziation von Ostjuden mit dem Unheimlichen. Ein Rabbi entnimmt den Sternen, daß den Juden ein großes Desaster droht, und fertigt einen Mann aus Ton, einen Golem, der sich aber verselbständigt und, statt den Juden zu helfen, sie vernichtet.

So ähnlich könnte manchen russischen Juden der Bürgerkrieg in ihrer Heimat erschienen sein, der sie zwar zunächst von der Zarenherrschaft und deren Beschränkungen und Verfolgungen befreite, ihnen dann aber gleich wieder Vertreibung und Pogrome einbrachte. Der große Strom in den Westen setzte ein; allein nach Wien zogen über 75.000 Verfolgte, die dort das orthodoxe gegen das assimilierte Judentum stärkten, wo dann „Ostjude“ ein Schimpfwort wurde. Gegen diese Tendenz entstehen 1923 Filme wie East and West, in dem ein grobschlächtiger New Yorker Geschäftsmann, ein Allrightnik, zu einer Familienfeier in ein galizisches Shtetl fährt. Im Schlepptau hat er seine Tochter Molly (Molly Picon, jüdischer Vaudeville-Star der Second Avenue), die im Kreise der ernsten Talmudschüler mit Schläfenlocken und langen Schwarzröcken einen Tanz auf dem Tisch aufführt, daß denen Hören und Sehen vergeht. Der keifenden alten Köchin hingegen prellt sie eine mit dem Boxhandschuh. Daß der Film schließlich doch mit ihrer Verheiratung an einen der Talmudschüler endet, liegt nur daran, daß der sich in Wien die Schläfenlocken abgeschnitten und sich höchst erfolgreich assimiliert hat.

Säkularisiert wurde der jiddische Film auch vor seinem Verbot durch Stalin in der postrevolutionären Sowjetunion: Junge kommunistische Juden gebärdeten sich antiklerikaler als ihre nichtjüdischen Genossen und zögerten nicht, traditionalistische jüdische Künstler heftig zu attackieren. Ein großer Teil jiddischer Filme aus Ost und West rankt sich um ein Familiendrama; Kantorssohn zwischen Loyalität zum Vater und weltlichem Ruhm (The Jazz Singer, USA 1929), jüdisches Mädchen heiratet einen Goim (Tevye, USA 1929) oder ist von bösen Geistern besessen (Der Dibbuk, Polen 1937). Der Zerfall patriarchaler Autorität stellt immer zugleich auch den Fortbestand des ganzen Volkes in Frage.

Die Einführung des Tonfilms 1929 und die Wirtschaftskrise verkleinerten das Publikum für jiddischen Filme merklich; die Sprache war dem Kosmopolitanismus ein Stein im Wege. Das „Goldene Zeitalter“ des jiddischen Films nennt Hoberman die Zeit der Volksfront gegen Nazi-Deutschland, in der Fiddler on the Roof, Grine Felder oder Der Dibek internationale Hits werden und in denen eine rührige polnische Filmindustrie jiddische Filme auf Touren durch Nord- und Südamerika schickt. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt endet, was immer an Kooperation zwischen jiddischen Kommunisten und ihren Glaubensgenossen existierte. Entgeistert gaben viele in New York zum zweiten Mal ihre Parteibücher zurück.

Nach dem Krieg und der Vernichtung von neunzig Prozent der Jiddisch sprechenden Bevölkerung Europas wurde Jiddisch im Kino zum „Signifikanten für Verdrängung, Nostalgie und Abwesenheit“ (Hoberman). Von den wenigen jiddischen Filmen, die in dieser Situation entstehen, machen die ernstzunehmenden die Unzeigbarkeit ihres Gegenstandes zum Thema.

Die Filmreihe, die die Ausstellung Jüdische Lebenswelten begleitet, läuft noch bis zum 22. April im Berliner „Arsenal“-Kino.