: Purismus kann es gar nicht geben
Ein Gespräch über Klezmer-Musik mit dem amerikanisch-jüdischen Klarinettisten und Musikforscher Joel Rubin von „Brave Old World“ und der Berliner Judaistin und Musikhistorikerin Rita Ottens ■ Von Anita Kugler
Rita Ottens und Joel Rubin haben als Parallelveranstaltung zur Ausstellung Jüdische Lebenswelten in Berlin eine Konzertreihe mit traditioneller und populärer jüdischer Musik organisiert. Vorgestellt wird Klezmer-Musik, die in Deutschland noch nie zu hören gewesen ist.
taz: Zur Klezmer-Musik fallen mir „Anatevka — Fiddler on the Roof“ und der King of Klezmer, Giora Feidmann, ein. Ist das wirklich Klezmer-Musik?
Joel Rubin: Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Ich halte „Anatevka“ mehr für einen Broadway- Verschnitt in Richtung „Jesus Christ Superstar“. Bei Feidmann ist das schon schwieriger zu beantworten. Bis Ende der siebziger Jahre enthielt seine Musik sehr viele Klezmer-Elemente. Jetzt macht er mehr seine eigene Show, eine internationale, bunte Mischung aus Tango, Jazz und Folklore mit eingestreuten Klezmer- Elementen. Der King of Klezmer ist er sicher nicht, so nennt er sich nur selber. Dieser Ehrentitel gebührt den großen Klarinettisten der zwanziger bis vierziger Jahre, Dave Terras und Naftule Brandwein.
Was ist Klezmer-Musik?
Rubin: Oh Himmel, um Ihnen das zu erklären, bräuchte ich mindestens zwanzig Minuten. Klezmer ist ein jiddisches Wort, daß „Musiker“ heißt und aus dem Althebräischen kommt. Klezmer sind professionelle Gebrauchsmusiker der osteuropäischen Kultur, Leute also, die traditionelle Instrumental-Volksmusik auf Hochzeiten, „chassenes“, und anderen „sinches“, Feiern und Festtagen, gespielt haben, und dies seit Jahrhunderten. Diese Musik war ein Teil des jiddischen Lebens, mindestens seit dem 16. Jahrhundert. Der soziale Status der Klezmorim war kaum höher als der der „shnorer“, also der Bettler. Oft übten sie Berufe wie „frizirer“, „shuster“ oder „shnayder“ aus und konnten ihre Instrumente nur üben, wenn keine Kunden da waren.
Eine Klezmer-Gruppe bestand aus zwei bis maximal zwölf Personen, und auch ihre Musikinstrumente änderten sich im Laufe der Perioden. Die Musik, die wir spielen und kennen, ist wahrscheinlich nicht älter als zweihundert Jahre. Die frühesten Instrumente waren das „tsimbl“, das ist eine Art Hackbrett, Flöten, verschiedene Geigeninstrumente und dazu eine Trommel. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Klarinetten hinzu, später Akkordeon, Saxophon, Schlagzeug. In den siebziger Jahren benutzten die Klezmorim auch die Orgel, und die chassidischen Musiker in New York spielen heute sehr gerne elektrische Gitarren und Synthesizer.
Ist denn die Musik traditionell geblieben?
Rita Ottens: Der Begriff traditionell ist wirklich problematisch, besonders in bezug auf jüdische Musik. Gerade diese Musik ist wegen der Emanzipationsbewegung im vorigen Jahrhundert, des Holocausts, des Stalinismus, der Assimilierung in Amerika, der Unterdrückung der jiddischen Kultur im Staat Israel und der Identifikation der amerikanisch- jüdischen Gemeinden mit diesem Staat nicht ununterbrochen verlaufen, sondern stagnierte immer wieder und entwickelte sich später neu und weiter. Eine richtiges Loch entstand ab den fünfziger Jahren. Die Musiker spielten israelische Musik und in den USA jede mögliche Art von ethnischer Musik, bloß keine jiddische.
Rubin: Aber es gab immer Instrumentalisten, die diese Musik noch kannten, und es gab die Schellackplatten und Noten. Besonders aber lernten wir von den alten Musikern, die noch am Leben sind oder waren. Sie kamen aus Osteuropa oder wurden schon in Amerika geboren. Oft höre ich über Klezmer-Musik, sie sei eine verschwundene Musik, die einige Musiker heute wieder lebendig machen wollen. Das stimmt so nicht. Diese Musik wird von Musikern, die mit dieser Musik aufgewachsen sind, bis heute gespielt. Sie haben das Repertoire und den Stil nicht vergessen. Insofern sind wir jüngere Musiker traditionell.
Aber wir wurden nicht in Osteuropa geboren und spielen nicht mehr auf Hochzeiten, sondern auf der Bühne. Das ist ein ganz anderer Kontext. Aus unserer Gruppe, der Brave Old World, spricht nur einer Jiddisch als Muttersprache. Wir kennen auch nur ein paar Worte der „klezmer- loshn“, eines eigenen Jargon, ähnlich wie der „hip talk“ der Jazzmusiker. Auf der einen Seite sind wir zwar tief in der Tradition verwurzelt, auf der anderen Seite machen wir aber etwas Neues: Künstlerische Bearbeitungen, neue Arrangements, neue Lieder und Texte auf jiddisch, einer Sprache, die wir erst wieder lernen müssen.
Was ist denn das Typische am Klezmer-Sound?
Rubin: Das zentrale Kennzeichen ist die Phrasierung, dieses „krekhts“, dieses abrupte Abbrechen und Überschlagen der Tones. Das hat sehr viel mit der osteuropäischen jiddischen Gesangstradition zu tun, mit den synagogalen Musik und mit den Volksliedern. Diese Phrasierung wurde von den Instrumentalmusikern übernommen. Aufgenommen haben die Klezmorim auch die Melodien, die die Rabbiner gesungen haben, keine Synagogenmusik, sondern eine Art religiöser Volkslieder. Typisch ist auch der „freygish“, dieses Tonintervall, das sich „übermäßige Sekunde“ nennt. Aber ohne Noten kann man diese musikalischen Kennzeichen gar nicht beschreiben.
Ottens: „Reinheit der Volkskultur“, „typische“ Klezmer-Musik gibt es gar nicht. Kulturen sind immer Vermischungen, sie entwickeln sich weiter. Die Juden in Osteuropa hatten Kontakt mit Zigeunern, Bauern, vielen anderen ethnischen Gruppen. Alle haben voneinander geborgt, sich ausgetauscht. Purismus, besonders in der jüdischen Kultur, kann es gar nicht geben. Dafür ist die jiddische Sprache doch das beste Beispiel. Es ist daher oft nicht einfach zu sagen, „dieses Stück ist jiddisch und jenes moldawisch oder bessarabisch“. Das jüdische Osteuropa hatte keine nationalen Grenzen.
Heute gibt es eine Renaissance des jüdischen Lebens und damit auch ein neues Interesse an der Klezmer-Musik. Ist diese Musik im neuen Kontext wieder zu einem verbindenden Element in der jüdischen Kultur geworden?
Ottens: Sie wird es wieder. Die Klezmer-Musik lebte ab den siebziger Jahren wieder auf, man spricht heute von einem Klezmer-Revival. Pioniere waren da Henry Sapoznik von der Gruppe „Kapelye“ und die „Klezmorim“ aus Kalifornien. Diese Leute haben die Musik wiederentdeckt, vielleicht weil sie auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität waren. Sie lernten von den Veteranen Dave Terras und Sid Beckermann und gruben die Platten aus der Vorkriegszeit wieder aus. Sie mußten richtige Forschungsarbeit leisten und haben viele andere damit inspiriert. Heute gibt es in New York einmal im Jahr ein „Klez Kamp“, wo ungefähr vierhundert Musiker für fünf Tage zusammenkommen und voneinander lernen.
Seit wann gibt es die Gruppe Brave Old World?
Rubin: Als Gruppe mit diesem Namen gibt es uns erst seit Anfang 1989. Aber die Musiker — Steward Brotman, Michael Alpert, Alan Bern und ich — haben zum Teil schon sehr lange Klezmer gespielt. Brotman gar seit den fünfziger Jahren, er spielte vor allem auf Hochzeiten. Alpert und Bern gründeten Mitte der siebziger Jahre eine der ersten neueren Gruppen, die „Chuzpe“. Auch ich spiele schon über zwölf Jahre Klezmer. Ich mag diese Kategorisierung in Generationen nicht. Es ist viel wichtiger zu sagen, von wem und wie man gelernt hat.
Die Musiker von Brave Old World leben und arbeiten in den USA und Deutschland. Einige Male im Jahr treffen Sie sich, um Konzerte in Europa zu geben. Sie leben seit 1989 in Berlin und haben zusammen mit der Musikforscherin Rita Ottens das musikalische Programm zu den „Jüdischen Lebenswelten“ initiiert und organisiert. Ist die Vermittlung der Klezmer-Musik und ihrer Traditionen in Deutschland eine Pionierarbeit?
Ottens: Das kann man wohl sagen. Gerade in Deutschland sind die Mißverständnisse über jiddische Kultur sehr groß. Ein großer Teil der Nachkriegsgeneration betrachtet das Ostjudentum als Symbol für das Judentum überhaupt, das heißt, wenn sie an Juden denken, denken sie an den orthodoxen Shtetl-Juden mit Bart und Kaftan. Klezmer-Musik aber gibt es seit den großen Auswanderungswellen aus Osteuropa in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts genauso in den USA, in Südamerika, in Australien und neuerdings auch wieder in Israel. Diese Vielseitigkeit wollen wir hier darstellen. Es werden Musiker auftreten, die in Deutschland noch nie zu hören gewesen sind.
Neun Konzerte werden bis Mitte April stattfinden, welche sind besonders ungewöhnlich?
Rubin: Alle, jeweils in ihrer eigenen Art. Die einzige in Deutschland bekannte Musik ist eigentlich unsere. Herausheben möchte ich aber die Lieder aus dem Ghetto Lodz, die wir spielen dürfen. Es sind Lieder die von der Musikethnologin Gila Flam, die am U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington arbeitet, gesammelt und rekonstruiert wurden und die zum zweiten Mal überhaupt in Deutschland vorgestellt werden.
Ottens: Diese Lieder sind wirklich ein kulturhistorischer Sprengstoff, weil sie das Bild vom nur leidenden Ghettojuden völlig umkrempeln. Diese Lieder sind von einer bitteren Ironie und zeigen, daß es einen aktiven geistigen Widerstand im Ghetto gegeben hat. Die Texte sind Dokumente eines unglaublichen Überlebenswillens und tief bewegend. Als Vermächtnis der Menschen in Lodz werden wir ein Stück von Miriam Hare mit dem Titel „Winter 1942“ hören. Als sie es schrieb, war sie 14 Jahre alt. Das Konzert wird vom SFB übertragen werden, und die Festspielleitung plant, eine Kassette davon herauszugeben. Nach dem Konzert wird Gila Flam über die Musik im Ghetto Lodz einen Vortrag halten.
Rubin: Ungewöhnlich ist auch das Konzert der Epstein-Brothers aus Florida. Max Epstein spielt schon seit 1924 professionell Klezmer-Musik und kommt mit seinen beiden Brüdern überhaupt zum ersten Mal nach Europa. Ihre Musik ist authentisch in dem Sinne, daß sie noch im traditionellen Kontext eingebunden ist. Sie spielen Gebrauchsmusik bei jüdischen Festen, und ihr Klezmer ist völlig unberührt von der Revival-Bewegung geblieben.
Für deutsche Ohren ganz exotisch ist auch die Gruppe „Piamenta“. Das ist eine fünfköpfige chassidische Rockgruppe aus Brooklyn, die eine ganz besondere und eigene Art von religiöser Musik entwickelt hat. Ihre Musik nennt man auch neo-orthodox. In Europa spielten sie bisher nur ein einziges Mal, und das war im völlig ausverkauften Londoner Wembley-Stadium.
Schließen sich chassidische und Rockmusik nicht gegenseitig aus?
Rubin: Im Gegenteil. Jedes Jahr kommen dreitausend chassidische Rockkassetten auf den Markt. In den USA ist das ein riesiges Geschäft. In Deutschland kennt diese Musik, die überaus vital ist, kein Mensch. Deswegen sind wir ja auch so froh, daß wir diese Reihe machen dürfen. Froh sind wir auch, daß die New Yorker Kantorin Naomi Hirsch zu einem Konzert mit synagogaler Musik aus der aschkenasischen Tradition nach Berlin kommt. Sie hat eine tiefe Verbindung zu Berlin. Ihr Großvater Otto Hirsch war während des Krieges Vorsitzender der Reichsvertretung der Juden in Deutschland und wurde später nach Auschwitz deportiert.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Rubin: Bis Mitte April sind wir noch voll und ganz mit den „Jüdischen Lebenswelten“ beschäftigt. Neben der Konzertreihe haben wir noch für den SFB eine 15teilige Radiosendung über traditionelle jüdische Musik gemacht. Ebenfalls beginnt demnächst ein Volkshochschulkurs über Klezmer-Musik. Und im Herbst werde ich bei dem Jüdischen Kulturfestival in Krakau den theatralischen Teil organisieren. Einer der Hauptgründe, warum ich in Berlin arbeite, ist, daß ich in Osteuropa forschen möchte. Es gibt dort viele nichtjüdische Musiker, die jüdische Musik spielen. Nicht als Trend, sondern weil es ein Teil ihrer Kultur ist, das heißt, ihre Väter haben diese Musik mit Juden gespielt. So bin ich im vergangenen Oktober in die alte autonome jüdische Republik Berobidshan an der chinesischen Grenze gereist. Auch dort habe ich Spuren einer Klezmer-Tradition gefunden. Unser Traum ist, später ein Buch über die Geschichte der Klezmer-Musik zu schreiben. In Deutschland gibt es heute ein großes Interesse für diese Musik, aber das Wissen darüber ist minimal.
Eine Zusammenstellung von Klezmer-Aufnahmen von 1907 bis 1939 unter dem Titel Yikhes haben Ottens und Rubin beim Trikont-Label herausgegeben. Mit einer vierzigseitigen Einführung in die Klezmer-Musik. Enthalten ist darin auch eine Diskographie der neueren Aufnahmen. Nur bei 2001 für DM 24.80
Als beste Musikproduktion des Jahres 1989 bezeichnete die Library of Congress eine gemeinsame Platte von Joel Rubin, Michael Alpert und Michael Schlesinger. Es ist eine Hommage mit und an Dave Tarras und heißt auch so. Global Village Music 1989.
Von der Brave Old World gibt es ein Album Klezmer Music , erschienen bei den Flying Fish Records, 1991 in Chicago.
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