Zur Sommerfrische an den Bodensee

■ Um die Entdeckung einer touristischen Landschaft geht es in einer Ausstellung des Bodensee-Arbeitskreises

Um die Entdeckung einer touristischen Landschaft geht es einer Ausstellung des Bodensee- Arbeitskreises

VONWERNERTRAPP

Die vergleichsweise noch junge Geschichte des Tourismus, über Jahrzehnte hinweg nicht nur von Geschichtsschreibung und Museen in der Bodenseeregion vernachlässigt, hat seit einigen Jahren unverkennbar Konjunktur. Museen haben sie als Thema für attraktive Ausstellungen entdeckt, Investoren und Touristiker haben darüber hinaus auch den Nutzen eines werblichen Rückgriffs auf Vergangenes erkannt: Das Titelbild des letztjährigen Bodensee-Prospekts zeigt den historischen Raddampfer „Hohentwiel“ auf einsamer Fahrt durch die blaugrünen Wasser. Das Motiv trifft zwar ein durchaus weitverbreitetes Bedürfnis, weit weniger jedoch die touristische Gegenwart am See.

Für diese scheint schon eher das modernste Gegenstück zur „Hohentwiel“, die „Graf Zeppelin“, zu stehen. Dieses Schiff bietet, ungeachtet all seiner Finessen als ein schwimmendes Tagungs- und Konferenzzentrum, ein schönes Beispiel für die Technisierung unserer Reisekultur. Unmittelbares und sinnliches Erleben von Landschaft und Natur wird dadurch zunehmend schwerer. Die Zahl der Sitzplätze auf Deck ist gegenüber früheren Schiffen deutlich reduziert, die umlaufenden Relings sind verschwunden. Wir sitzen hinter Glas, perfekt abgeschirmt von nahezu allem, was noch bis vor kurzem das Erlebnis einer Schiffahrt auf dem Bodensee ausmachte: vom leisen Schlag der Wellen, vom Geschrei der Möwen und Wasservögel, vom Wind wie überhaupt von der Vielfalt der Geräusche, die vom Ufer an unser Ohr drangen. Aber auch von allem, was schon einen einzigen tiefen Atemzug auf Deck zu einem unverwechselbaren Sinneseindruck machte: die Mischung aus frischer Seeluft und feiner Gischt der Bugwellen, gepaart mit dem Geruch trocknender Algen, und hin und wieder eine Schwade von frisch verbranntem Schiffsdiesel. Selbst die Motoren der „Graf Zeppelin“ sind nicht mehr zur hören: Lautlos gleiten wir dahin, und ebenso lautlos zieht die Landschaft an uns vorbei. Kulisse in einem Film, dem aus unerfindlichen Gründen die Tonspur fehlt.

Die „Graf Zeppelin“ ist nur ein Beispiel für eine Philosophie des Reisens, die offenbar die Zukunft auf ihrer Seite hat. In den modernen Hochgeschwindigkeitszügen findet diese ihren derzeit wohl konzentriertesten Ausdruck: In möglichst geraden Schneisen und Tunnels jagen wir von A nach B — die dazwischenliegende Landschaft ist nur noch lästiges Hindernis, Distanz, die es immer weiter zu verkürzen gilt. Beim Blick aus dem Fenster sind Einzelheiten nicht mehr zu erkennen. Das Gefühl für die ursprüngliche Gestalt der Landschaft, für ihre Höhen, Wellen, Senken und Kurven, geht uns verloren.

Wohl eher unbewußt wächst aus dieser Befindlichkeit des modernen Reisens die Neugier auf Verhältnisse, in denen es einmal anders war. Im Falle des Tourismus kommt ein gehöriges Quantum Verunsicherung hinzu: Die Einsicht, daß es so nicht mehr (zumindest nicht mehr allzu lange!) weitergehen kann oder weitergehen wird, ist auch am Bodensee kein Privileg ökologisch engagierter Randgruppen mehr. Und wo Zukunftsgewißheiten schwinden, wächst das Bedürfnis nach „Geschichte“. Im Falle des Tourismus aus durchaus ambivalenten Antrieben: als Sehnsucht nach einer vermeintlich „guten alten Zeit“ des noch sorglosen und unbeschwerten Reisens, aber auch als Bedürfnis nach einer perspektivisch übergreifenden Standortbestimmung, die nur in der Zusammenschau von historischer Rückbesinnung, kritischer Bestandsaufnahme der Gegenwart und einer offenen Diskussion über mögliche, drohende oder wünschbare Entwicklungen der Zukunft möglich ist.

Fiktive Reise zum See

Anstöße dazu will die Ausstellung Sommerfrische — die touristische Entdeckung der Bodenseelandschaft liefern. Sie lädt den Besucher ein zu einer fiktiven Reise an den See zur Zeit der Jahrhundertwende: Themen und Szenen der Ausstellung folgen den Stationen dieser Reise, von der Reiseplanung und der Wahl des Reisezieles über die Anreise an den See, den Aufenthalt im Hotel, die diversen Gestaltungs- und Erlebnismöglichkeiten am Ort (Stadtrundgang, Bad im See, Wassersport, Schiffsausflug, Spaziergänge und Wanderungen in die Umgebung, kulturelle und andere Attraktionen), bis hin zu dem, was die Reisenden nicht nur an Eindrücken, sondern an Abdrücken und Abbildern der Landschaft, an Veduten, Panoramen und Souvenirs mit nach Hause nahmen.

Der zeitliche Schwerpunkt der Ausstellung ist mit dem großzügig gefaßten Begriff „Jahrhundertwende“, das heißt etwa der Zeit zwischen 1870/80 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, sehr bewußt gewählt. In jenen Jahren nämlich finden wir all jene Veränderungen in Reisekultur und Fremdenverkehr, die, zusammen gesehen, als die fließenden Übergänge von der adeligen und großbürgerlichen Exklusivität des Reisens zu den Keimformen eines modernen Massentourismus zu beschreiben sind. Sie künden ein neues touristisches Zeitalter an.

Die Eisenbahn als Wegbereiterin

Zur „Industrie“, zum organisierten Unternehmen wird der Tourismus mit dem Durchbruch des Eisenbahnzeitalters. Wo immer eine Bahn den See erreicht, entstehen, meist in unmittelbarer Nähe von Hafen und Bahnhof, neue Hotels, komfortable Etablissements für den längeren Aufenthalt, welche die einfachen Gasthöfe der vorindustriellen Zeit bald verdrängten. Mit dem Entstehen dieser von den Zeitgenossen sogenannten „Fremdenindustrie“ geht das organisierte Bemühen um den „Fremdenzufluß“ einher: Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bemühen sich „Gemeinnützige Vereine“, Verschönerungsvereine, Kurcommissionen und bald auch Verkehrsvereine um die touristengerechte Aufbereitung und „Erschließung“ ihrer Plätze. Städte und Landschaften werden den Sehbedürfnissen der Touristen entsprechend präpariert, deren Bedürfnisse wirken wiederum zurück auf das Bild, das die Landschaft von sich entwirft: die mit der sich entfaltenden industriellen Gesellschaft einhergehende Trennung von Arbeit und Freizeit pflanzt sich fort in der zunehmenden Trennung von Arbeits- (Industrie-) und Freizeit- beziehungsweise Ferienlandschaften.

Die Geburt dieser „Tourismuslandschaft Bodensee“ hat ein präzises Datum: Am 16. Januar 1893 kamen die Gasthofbesitzer zwischen Rheinfall und Bregenz in der Vorarlberger Landeshauptstadt zusammen und konstituierten nicht nur den „Verband der Gasthofbesitzer am Bodensee und Rhein“, sondern auch die eigenständige internationale Tourismuslandschaft „Bodensee und Rhein“ als ein kantons-, länder- und staatsgrenzenübergreifendes Feriengebiet, das es auf dem entstehenden europäischen und Weltreisemarkt zu behaupten galt. Im Januar 1901 zeigten auch Verkehrsvereine und Kommunen am See mit der Gründung des „Bodensee Verkehrsvereins“, daß sie die „Zeichen der Zeit“ begriffen hatten, einer Zeit, in der angesichts wachsender Konkurrenz lokaler Eigenbrötelei kein Erfolg mehr beschieden war. Das Gebiet präsentierte sich auf dem „touristischen Markt“.

Es ist durchaus möglich, daß dieser Begriff damals noch nicht geboren war — als Maxime des Verhaltens spielt er jedoch schon eine gewichtige Rolle: Auch am Bodensee wurden Hotels, Sanatorien und Verkehrsunternehmen zum Teil schon als Aktiengesellschaften gegründet, bot sich die touristische Zukunft des eigenen Ortes an als Objekt der Spekulation für Mittelstand und Bürgertum. Wie das nach Anlagemöglichkeiten suchende Kapital nicht mehr an Orte gebunden, sondern im Prinzip grenzenlos mobil war, so geriet auch der moderne Tourismus zu einer den gesamten Globus erfassenden Bewegung: Die noch unbekannten Reservate des Planeten waren in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts im wesentlichen entdeckt.

Für die reisende High Society Europas waren Gesellschaftsreisen auf Hochseedampfern schon zur selben Zeit en vogue: Nordlandfahrten, aber auch Reisen nach Nordafrika, in den Mittelmeerraum, in den Orient bis nach Indien, China und Japan.

Werbung mit fremden Federn

Für die weniger Betuchten tat es (vorerst) auch der Bodensee. Doch schon die werbenden Attribute aus der Zeit um 1900 verraten, daß der See den Werbern und anscheinend auch den Touristen nicht mehr gut genug war. Bereits vor der Jahrhundertwende konkurrierten mit Überlingen und „Bad Friedrichshafen“ gleich zwei Orte um das Prädikat „Deutsches Nizza am Schwäbischen Meer“, die Nordufer des Sees priesen ihre lauschigen Reize mit dem schmückenden Etikett einer „deutschen Riviera“, die kleine Wasserburg bei Lindau ernannte sich stolz zum „deutschen Chillon“, Lindau gar plusterte sich auf als ein „deutsches Venedig“. Und der Pfänder bei Bregenz — noch keineswegs durch eine Bergbahn erschlossen — buhlte als „Rigi des Bodensees“ um die Gunst des Publikums.

Solch sorgloser Umgang mit eigener wie fremder Identität verweist zunächst auf eine charakteristische Verspätung: Der Bodensee als Reise- und Ferienlandschaft begann seine touristische Karriere mit dem Versuch, vom Glanz längst etablierter Zentren des Fremdenverkehrs zu profitieren. Wer die werblichen Bemühungen aus jener Zeit jedoch genauer studiert, wird bald erkennen, daß auch den Zeitgenossen am See der Unterschied zwischen Nizza und Überlingen wohl bewußt war. Hier versprach man zuallererst, was die wachsende Hektik großstädtisch-industrialisierter Lebenswelten immer weniger zu bieten vermochte: unberührte Natur und eine noch ebenso unberührte Architektur mittelalterlicher Vergangenheit, gesunde Luft und sauberes Wasser, überschaubare Lebensverhältnisse, soziale Vertrautheit und gesellschaftliche Harmonie. Die „Sommerfrische“ am Bodensee schien dem Städter genau dies zu bieten: ein Stück mittelständischer Solidität in bewußter Absetzung vom „mondänen“ und „genußsüchtigen“ Leben der großen Kurorte und Modebäder und einen bescheidenen Traum vom Süden für jene breiten bürgerlichen Schichten, die sich Nizza, eine Riviera oder auch nur eine Rigi (noch) nicht leisten konnten.

Die touristische Entwicklung hat — zumindest vereinzelt — schon die Zeitgenossen beunruhigt, zuerst die Protagonisten der Heimatschutzbewegung am See. Im ersten Jahrgang des 'Bodenseebuchs‘ notierte einer von ihnen, Dr. Ernst Gradmann aus Konstanz, anno 1914: „Der Bodensee hat eine Seele! ... Seehasen, hütet die See-Seele! Ich sehe die Zeit nahen, wo viele gehetzte Großstadtmenschen an unser Schwäbisches Meer kommen, sich ankaufen und anbauen — seiner Naturschönheit zulieb —, aber vielleicht doch, ohne seine Seele zu kennen und zu lieben. Dann wird's bei uns aussehen wie anderswo in der Welt, wo man nach Irrfahrten die ,Heimat‘ wieder sucht, ohne sie doch zu finden.“

Die Austellung Sommerfrische — die touristische Entdeckung der Bodenseelandschaft ist bis zum 26. Januar im Historischen Museum St. Gallen zu sehen. Im Verlauf des Jahres wird sie in weiteren Museen rund um den Bodensee zu besichtigen sein.