KOMMENTAR
: Die „deutsche Frage“ in der CSFR

■ Die Verschleppung des Freundschaftsvertrags zeitigt böse Folgen

Jetzt ist es also doch passiert. Der tschechoslowakisch-deutsche Vertrag ist zum Thema der innenpolitischen Auseinandersetzung in der CSFR geworden. Fünf linke und nationalistische Parteien — von den Sozialdemokraten bis zur „Gesellschaft für die demokratische Selbstverwaltung Mährens und Schlesiens“ — haben sich in einer gemeinsamen Erklärung für eine Neuverhandlung des Vertragstextes ausgesprochen. Auch wenn die tschechische Presse diesen Standpunkt der fast ausschließlich außerparlamentarischen Gruppierungen bisher nicht zur Kenntnis nimmt, hat sich damit dennoch ein nicht unbedeutendes gesellschaftliches Spektrum zu Wort gemeldet: Nach den neuesten Meinungsumfragen können die fünf — gemeinsam mit den Kommunisten, die seit langem zu den Gegnern des Vertrages zählen — auf einen Stimmenanteil von rund 35 Prozent hoffen. Da die Linke in ökonomischen Fragen den Konservativen um Finanzminister Vaclav Klaus kaum das Wasser reichen kann, dürfte sie sich fünf Monate vor den Parlamentswahlen dieses „stimmenträchtige“ Thema nun nicht mehr entgehen lassen. Die Diskussionen der letzten Tage zeigten: In der Tschechoslowakei wächst das Mißtrauen gegen Deutschland und die Deutschen.

Dieses Mißtrauen hat seine Ursache freilich nicht nur in den augenblicklichen Bonner Diskussionen. Ausschlaggebend ist vielmehr die deutsche „Invasion“, die der östliche Nachbar der Bundesrepublik seit nunmehr zwei Jahren erlebt. Deutsches Kapital — Mercedes, Siemens, Volkswagen — werden nach den jüngsten Vertragsverhandlungen wichtige Teile der tschechoslowakischen Ökonomie kontrollieren, Millionen deutscher Touristen verwandeln Prag — aber auch die Grenzbereiche — an jedem Wochenende in eine billiges Einkaufsparadies. So mancher Tscheche fühlt sich da „zum zweitenmal besetzt“, immer lauter werden die Stimmen, die fordern, daß die Tschechoslowakei nicht zu einer deutschen Kolonie werden dürfe.

Erneute Vertragsverhandlungen wären eine klare Niederlage für Vaclav Havel und die liberal- konservative tschechoslowakische Föderalregierung. Aus historischen und wirtschaftlichen Gründen wollten sie das deutsch-tschechoslowakische Verhältnis endlich auf eine neue Grundlage stellen. Schluß sollte sein mit dem nunmehr ein Jahrhundert andauernden Streit der Nationen, Böhmen und seine Grenze zu Bayern und Sachsen sollten wieder zu Regionen des deutsch-tschechischen Austausches werden. An diesem Austausch hat aber auch der so vielbeschworene Klein- und Mittelstand in den ökonomisch schwachen Grenzregionen wachsendes Interesse. Bundeskanzler Helmut Kohl und die CSU haben nicht nur den ihnen politisch nahestehenden Partnern in der Tschechoslowakei, sondern auch ihrer eigenen Klientel mit ihrer Taktik der Verzögerungen und Nachbesserungswünsche einen schlechten Dienst erwiesen. Sabine Herre