„Wir sind am Nullpunkt angelangt“

Während Rumäniens Wirtschaft am Boden liegt, florieren Schwarzhandel und Privatgeschäfte  ■ Aus Sibiu Keno Verseck

Trotz der schneidenden Kälte drängen sich auf der Hauptstraße von Sibiu die Menschen. Fliegende Händler bieten Sexmagazine und ultranationalistische Hetzblätter feil; daneben gibt es Eminescus Gedichte, billige Romanheftchen, Zigaretten, Coca-Cola und geröstete Kürbiskerne zu kaufen. In einer Ecke liegt ein zappelnder Sack; das Quieken eines Schweines ist zu hören.

Doch die Basar-Atmosphäre im ehemaligen Hermannstadt täuscht. Die meisten Menschen stehen in langen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften, die gerade wieder einmal mit Brot beliefert wurden. Es gibt dort kaum etwas zu kaufen. Dutzende von privaten Läden, in denen Gebraucht- und Westwaren aller Art zu haben sind, werden von den Passanten dagegen nur sehnsüchtig beäugt. Käufer finden sich wenige, denn die Preise sind für rumänische Verhältnisse schwindelerregend. Das größte staatliche Warenhaus ist zwar billiger; dafür sind die Regale meist gähnend leer.

Ioan Anca glaubt den Grund für die Wirtschaftsmisere zu kennen: „Die meisten Menschen in diesem Land“, sagt er, „möchten wie im Westen leben, ohne wie im Westen zu arbeiten. Das ist das Problem.“ Anca selbst schuftet 14 bis 16 Stunden am Tag, wie er sagt. Er gehört zu dem ständig wachsenden Händlerheer, das dafür sorgt, daß es in Rumänien überhaupt noch mit der Versorgung klappt und etwas mehr als nur ein paar Grundnahrungsmittel schlechtester Qualität zu kaufen gibt. Was sie anzubieten haben, kommt meist aus dem Ausland oder ist Gebrauchtware. Die Geschäfte laufen gut. In krassem Gegensatz dazu steht die Leistungsfähigkeit der rumänischen Wirtschaft: Dort sinkt die Produktion von Tag zu Tag drastisch; der Kollaps scheint nicht mehr zu verhindern zu sein.

Für Ioan Anca ist klar, daß man es nur machen muß wie er, damit in zwei, drei Jahren alles besser wird. Zwar findet auch er — wie mittlerweile die meisten im Land —, daß sich seit Ceausescus Sturz kaum etwas geändert hat und man endlich die allmächtige Bürokratie zerschlagen müsse, die das Grundübel für die schlechte Lage sei. Statt zu lamentieren, greift er lieber zur Selbsthilfe: Als beispielsweise die Heizung in seiner Zwei-Zimmer-Neubauwohnung nicht mehr richtig funktionierte, bastelte er kurzerhand einen Brenner zusammen und schloß ihn an die Gasleitung an — eine abenteuerliche Konstruktion. Dementsprechend liegt die Betonung in seinem simplen Anti-Krisen-Programm auf den Personalpronomen: „Ich darf nur für mich und mein Eigentum arbeiten; damit hat man Erfolg. Aber wenn alles allen gehört, dann funktioniert nichts mehr.“ Damit steht er nicht allein, durch die Reihen der privaten Geschäfts- und Kleingewerbetreibenden weht der Geist des Manchester-Kapitalismus.

Seinen schlechtbezahlten Job als Straßen-, Brücken- und Eisenbahnbauingenieur hat Ioan Anca längst hingeschmissen. Anfang letzten Jahres begann er, sich mit Autoüberführungen Geld zu verdienen. Mehrmals fuhr er in die Ex-DDR, kaufte dort Dacias und brachte sie, vollgeladen mit Waren, nach Rumänien. Im Frühjahr 1991 habe er für einen gut erhaltenen Dacia Baujahr 84 in Ostdeutschland nur 400 bis 500 Mark bezahlt, so Anka, in Rumänien konnte man ihn für 1.500 bis 1.700 Mark weiterverkaufen. Auch wenn die Wagen inzwischen bis zu 1.000 Mark kosten, lohne sich das Geschäft immer noch. Wie sich der Zoll umschiffen läßt, erzählt Anca nicht. Doch die Wege zollfreien Warentransfers sind kein Geheimnis: An der Grenze geht alles viel schneller, wenn man ein Päckchen Kaffee oder Zigaretten unauffällig bereithält. Auch bei anderen rumänischen Behörden läuft ohne Bestechung so gut wie nichts mehr, schon gar nicht bei Privatunternehmern wie Anca.

Von dem Gewinn aus den Autodeals eröffnete der Geschäftsmann zusammen mit seinem Bruder ein Restaurant und eine Spedition, deren Fuhrpark mittlerweile fünf Kleintransporter umfaßt. Aufträge habe er genug, erzählt Anca, derzeit gebe es aber keinen Diesel, und nach Benzin müsse man Stunden anstehen. Auch das Restaurant läuft noch schlecht, denn die Preise sind für Normalverdienende unerschwinglich. Paradoxerweise kosten die Getränke manchmal sogar mehr als das Hauptgericht. Der Grund: Der staatliche Getränkehandel weigert sich häufig, an private Unternehmer zu liefern. Daher bleibt den Wirten oft nichts übrig, als importierte Westgetränke zu horrenden Preisen anzubieten.

In den Restaurantbetrieb hat Anca auch seine Frau Kristina eingespannt. Tagsüber arbeitet die Volkswirtschaftlerin in einer Fabrik, abends kocht oder kellnert sie. Auch von seinen acht Angestellten verlangt Anca Einsatz. „Ich teste eine Woche, und wer gut ist, kann bleiben.“ Über 40 Leute sind bei ihm schon ein- und ausgegangen. Trotzdem ist Anca nicht reich geworden. Auf den heimischen Küchentisch kommen meist nur Krautwickel mit saurer Sahne. „Das essen wir besonders viel und gern“, lacht Anca. Sein Sohn Paul, der Mathematik studiert, bleibt nicht so gelassen. „Rumänien ist ein reiches Land“, sagt er verbittert, „aber wir sind auf dem absoluten Nullpunkt angelangt.“