Auf Seiten der Sieger sind Verräter die Helden

Prozeß gegen Klaus Kuron, Verfassungsschützer und MfS-Mann/ Im deutsch-deutschen Spionagekrieg präsentiert die Staatsschutzjustiz der Sieger jetzt die Rechnung/ Beredtes Schweigen über die Methoden der westdeutschen Dienste  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

„Diesem Schwein, diesem Lumpen sollte man den Hals umdrehen.“ Mit diesen Worten habe er über jenen Mann geschimpft, der im Begriff war, ihn, den „Meisterspion“ der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), zu verraten — so erinnert sich Klaus Kuron vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht an die Nacht vom 5. auf den 6.Oktober 1990. Die Schimpfkanonade galt Karl Großmann, Namensvetter des letzten HVA-Chefs Werner Großmann. Lange Jahre lang war der inzwischen pensionierte „kleine Großmann“ stellvertretender Leiter jener HVA-Abteilung, die den im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln als „Maulwurf“ arbeitenden Kuron von Ostberlin aus führte. Als Kuron am 5.Oktober, zwei Tage nach der Wiedervereinigung, vom bevorstehenden „Verrat“ durch Großmann Wind bekam, fuhr er Hals über Kopf nach Berlin, um sich mit Hilfe seines einstigen HVA-Führungsoffiziers Stefan Engelmann über den sowjetischen Geheimdienst KGB aus Deutschland „ausschleusen“ zu lassen. Im letzten Moment, Kuron und seine Frau befanden sich schon im Hauptquartier der sowjetischen Luftwaffe in Zossen, bekam der „Meisterspion“ dann doch Bammel. „Zum Schein“, so sagt er heute, bot er sich den Sowjets an, fortan als KGB-Quelle aus Köln zu berichten. Die ließen ihn mit diesem Auftrag ziehen. Einen Tag später offenbarte sich Kuron und wurde verhaftet.

Verhinderter Triple-Agent

Seit zwei Wochen wird gegen ihn vor dem Staatsschutzsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts verhandelt. Karl Großmann, vom Kölner Verfassungsschutz mit 60.000 Mark für seinen „Verrat“ entlohnt, läßt es sich unterdessen gut gehen. Kurons echt wirkende Empörung über Großmanns Verrat offenbart die ganze Schizophrenie des Spionagemilieus. Kuron selbst, hochgelobter Abwehrspezialist im Kölner Amt, hat acht Jahre lang für einen Agentenlohn von 730.000 Mark alles, was wichtig war, nach Ostberlin verraten. Und — er war bereit, erneut die Fronten zu wechseln. Wenn die Kölner nur gewollt hätten, er wäre zum Schein auf das KGB-Angebot eingegangen, um an der Leine des Bundesamtes als erneut umgedrehter Agent, als sogenannter Triple-Agent, nun die Sowjets auszuspionieren. Dem Kölner Amt hält Kuron vor, die Möglichkeiten „nicht erkannt“ zu haben und fühlt sich erneut „hintergangen“.

Landesverrat „in einem besonders schweren Fall“ wirft Oberstaatsanwalt Ekkehard Schulz dem Angeklagten vor. Dafür droht im Höchstfall eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Unumstritten ist zwischen Kurons Münchener Verteidiger Werner Leitner und dem Ankläger, daß der Verratsumfang durch Kuron in keinem Einzelfall juristisch als Verrat von Staatsgeheimnissen sondern von Dienstgeheimnissen — Höchststrafe zehn Jahre —, zu werten ist. In der Summe, so argumentiert indessen die Bundesanwaltschaft, handele es sich gleichwohl um den Verrat von Staatsgeheimnissen und damit um schweren Landesverrat. Gegen dies „Summentheorie“ kämpft Rechtsanwalt Leitner: „Sie können aus hundert Ohrfeigen auch keinen Mord machen.“

Gunther Nehls (52), HVA-Oberst im Stasiministerium und acht Jahre lang wichtigster Führungsoffizier von Klaus Kuron, trat in dieser Woche zusammen mit dem zweiten Führungsoffizier Stefan Engelmann (38) in Düsseldorf als Zeuge auf. Gegen beide läuft ein Ermittlungsverfahren des Karlsruher Generalbundesanwaltes. Der Antrag der Verteidigung, bis zum Ausgang dieses Verfahrens den Kuron-Prozeß auszusetzen, weil nicht auszuschließen sei, daß das Aussageverhalten der in der gleichen Sache beschuldigten Führungsoffiziere unter dem Druck des Ermittlungsverfahrens „leiden“ könne, wurde ablehnt. Nach der bisherigen Rechtslage gelten Führungsoffiziere als Mittäter und Anstifter. In den Münchener Spionageprozessen gegen Gast und Spuhler waren die Führungsoffiziere im vergangenen Jahr zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Ob die Strafverfolgung hochrangiger HVA-Offiziere im MfS überhaupt rechtens ist, hat demnächst das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden.

Für Kuron, der aus der Hand des früheren DDR-Spionagechefs Markus Wolf höchstpersönlich 1984 den „Vaterländischen Verdienstorden der DDR“ empfing, gibt es unterdessen kein Pardon. „Im wesentlichen“, so sagte Ex-Oberst Nehls, inzwischen als „freier Ingenieur“ tätig, seien die Informationen über „Doppelagenten“ und sogenannte „Bearbeitungsfälle“ durch Kuron interessant gewesen.

Kuron war im Kölner Amt „Counterman-Führer“: Er leitete DDR- Agenten an, die die Kölner „umworben“, sprich, mit schmutzigen Tricks und Geld umgedreht hatten. In den Augen des westdeutschen Staatsschutzes eine ehrenwerte Tätigkeit. Rechtsanwalt Leitner spricht vom „legalisierten Landesverrat“, denn Kurons legale Aufgabe „bestand darin, Leute aus der DDR zu bestechen und zum Landesverrat gegen die DDR anzuzetteln“. Kuron selbst drückte es vor Gericht, ohne ins Detail zu gehen, so aus: „Nachrichtendienst ist ja das Geschäft mit den Schwächen und Nöten von Menschen.“ Fieberhaft wurde also nach Ansatzpunkten bei den DDR-Bürgern im Westen gesucht. Gelang es etwa, einen DDR-Bürger beim Klauen im Kaufhaus zu fotografieren, so setzte man hier an. Fand man raus, daß die Frau eines DDR-Botschafters eine lesbische Beziehung unterhielt, so bildete dies den Ausgangspunkt, um den Botschafter zu erpressen. Von solchen „Bearbeitungsfällen“ berichtete Kuron ebenfalls nach Ostberlin.

Ostspione als Verlierer im Geheimdienstkrieg

Geholfen hat die von Führungsoffizier Nehls „erfolgreich“ genannte „Aufklärungsarbeit“ der DDR- Staatsführung offensichtlich nichts. Als Verlierer im Spionagekrieg bleiben Leute wie Kuron übrig, für den bei Entdeckung zu DDR-Zeiten laut Nehls „alles getan worden wäre“, um einen Austausch zu schaffen. „Jeder, der ehrlich mit uns gearbeitet hat, konnte sich darauf verlassen.“ Kuron hat acht Jahre lang „loyal“ der HVA gedient; nur der Staat, dem er seine Dienste verkaufte, ist verschwunden.

Auf die andere Seite wechselte er mit dem Versprechen der HVA, „keine exekutiven Maßnahmen“ gegen von ihm verratene Doppelspione zu ergreifen. Markus Wolf persönlich hat ihm das zugesichert. „In 90Prozent aller Fälle haben wir uns daran gehalten“, sagte Nehls als Zeuge vor Gericht. Die enttarnten Doppelagenten seien entweder erneut umgedreht oder „trockengelegt“ worden.

Mindestens fünfmal kam es indes zur Verhaftung. Der tragischste Fall endete tödlich. Hort Garau, SED- Funktionär in Cottbus und zugleich „Instrukteur“ der HVA für Westagenten, wurde bei seinen zahlreichen Kurieraufenthalten im Westen von den Kölnern mit viel Westmark umgedreht. Nach dem Frontwechsel des Kölner Chefs der Spionageabwehr, Hansjoachim Tiedge, nahm man ihn fest und verurteilte ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Drei Jahre später fand man Garau, den Kuron schon 1982 enttarnt hatte, erhängt in seiner Zelle in Bautzen: Selbstmord lautete die offiziell ermittelte Todesursache.

Beide Führungsoffiziere bestätigten in dieser Woche, daß Kuron nach der Verhaftung von Garau darum gebeten habe, diesen auf die Austauschliste zu setzen. Die Verteidung hat beantragt, Markus Wolf in den Zeugenstand zu berufen, weil der bekunden könne, daß er dem Angeklagten Kurau den Austausch von Garau „in Aussicht gestellt hat“. Noch hat das Gericht über die Vernehmung von Wolf nicht entschieden. In den westlichen Staatsschutzkreisen genoß Garau großes Ansehen, im Osten galt er als mieser Verräter. Bei Kuron ist es genau umgekehrt. Immer wenn er spricht, verdunkelt sich die Miene des Düsseldorfer Anklägers. Lobend äußerte sich Oberstaatsanwalt Schulz dagegen am Mittwoch über den reuigen Führungsoffizier Nehls. „Sehr gut“, nannte er leise dessen Aussage, bevor er ihm zum Abschied „alles Gute“ wünschte.