Ravensbrück ist stärker als die Gegenwart

■ Die heute 71jährige Anna Tasler wurde im Konzentrationslager Ravensbrück zwangssterilisiert

Berlin. Es war im Sommer 1944, als Anna Tasler zum ersten Mal und für einen kurzen Moment den Alexanderplatz sah. Da war sie 23 Jahre alt, ledig und hieß mit Nachnamen noch »Slapschy«. Ob es Juli oder August war, als sie in Berlin einrollten, weiß sie so genau nicht mehr. Kurze Ärmel trug sie, weil es warm war in den kleinen Zellen des Zuges, der sie von Hannover hergebracht hatte. Dann ging es mit einer Polizeieskorte in die Keibelstraße, in die Keller des Polizeipräsidiums. Nach drei, vier Wochen wurde ein Sammeltransport zusammengestellt. Diesmal hieß das Ziel Ravensbrück, Frauenkonzentrationslager bei Fürstenberg. Auf der Fahrt weinte und betete sie, daß der Zug entgleisen möge. Aber der Zug entgleiste nicht.

In Ravensbrück erhielt Anna Tasler die Nummer 37762. Eine Zahlenreihe, die die heute 71jährige niemals vergessen wird. Bis an ihr Lebensende. Genauso wenig wie alles andere: daß es bei ihrer Ankunft regnete, daß sie 24 Stunden Appell stehen mußten, daß ihr die Haare kahlgeschoren wurden, daß sie schließlich ohnmächtig wurde. 11 von 25 vorgesehenen Stockhieben hatte sie durchgehalten, dann brach sie zusammen. Nichts ist vergessen. Noch heute spürt sie die Schmerzen auf dem Gesäß, vor allem wenn es kalt wird.

Ravensbrück hat Anna Tasler, geborene Slapschy, überlebt. Heute wohnt sie, zusammen mit ihrem um 15 Jahre jüngeren Mann, in Berlin- Mitte, nur ein paar Meter vom Spittelmarkt entfernt. In einer kleinen Wohnung, die sie 1969 bezogen haben. Puzzlebilder hängen an der Wand, in dem Einbauschrank stehen kleine Gläser mit verschiedenen Wappen. Eine scheinbar heile, kleine Welt. Doch die Erlebnisse im Lager haben sich in Anna Taslers Leben tief eingeschmolzen. Am Telefon hatte sie gebeten, am Vormittag zu kommen, wenn ihr Mann auf der Arbeit sei: »Wissen Sie, mein Mann weint immer, wenn ich von damals erzähle.« Er ist, wie sie, aus dem Sudetenland. Dort, in der heutigen CSFR, hatte die Geschichte begonnen, die nach Ravensbrück führte und doch nie aufgehört hat. Im Mai 1942 war sie schwanger geworden. Ein paar Monate später wurde sie verhaftet, zusammen mit dem Vater ihres ungeborenen Kindes, einem kanadischen Kriegsgefangenen polnischer Abstammung. Zum letzten Mal sah sie ihn 1942 in den Verhörräumen der Gestapo. Ob er noch lebt, sie weiß es nicht. Ihr Gefühl sagt ihr, »daß sie ihn totgeschlagen haben, denn er hätte sich gemeldet. Er war so ein feiner Kerl und wußte ja, daß ich schwanger war.«

Nach der Festnahme begann eine Odyssee, quer durch das damalige »Großdeutsche Reich«: Anna Tasler wurde zwangsweise in eine Nervenklinik in Leipzig eingewiesen, wo sie zur Geisteskranken erklärt und anschließend sterilisiert werden sollte. Doch eine Ärztin sprach für sie. So kam sie zurück nach Brüx, ihrem Geburtsort in Nord-Böhmen, wo auch ihre Eltern lebten. Nachdem ihre Tochter im Januar 1943 geboren und von ihren Eltern aufgenommen worden war, flüchtete sie aus dem bewachten Krankenhaus. Ein Arzt hatte ihr verraten, daß die Sterilisation kurz bevorstand. Monatelang wanderte sie umher, bis sie im August 1943 auf dem Hauptbahnhof in Hannover zufällig in eine Razzia geriet. Von da an gab es kein Entrinnen mehr: Nach verschiedenen Zwischenlagern kam sie schließlich über Berlin nach Ravensbrück. Verurteilt wurde sie nie. »Sicherheitsverwahrung auf unbestimmte Zeit« — so lautete die offizielle Begründung. Im Konzentrationslager rächten sich die Nazis für das, was sie in der Nervenklinik in Leipzig nicht geschafft hatten: nur zwei Monate vor der Befreiung, im Februar 1945, wurde Anna Tasler zwangssterilisiert.

Für die Leiden, die in Geld sowieso nicht aufzuwiegen sind, hat sie bis heute nur teilweise Entschädigung erhalten. In der DDR, in die sie 1954 wegen einer Liebesbeziehung ging, ist sie nie als Verfolgte anerkannt worden. Noch 1976 schrieb sie, die nie Mitglied einer Partei war, mit Hilfe eines DDR-Publizisten Briefe an Honecker, Sindermann und andere. Nichts. Immer wieder nur die Antwort: »Ach so, wegen eines Kriegsgefangenen sind sie ins Lager gekommen, das ist doch nichts Politisches.« So war es kein Wunder, daß Anna Tasler nach der Vereinigung sofort ihren DDR-Paß und Personalausweis gegen die bundesdeutschen Dokumente eintauschte: »Ich wollte von denen nichts mehr wissen, so sauer war ich.« Erst seit Oktober letzten Jahres besitzt sie die grüne Karte, die sie als »Politisch-rassisch- Verfolgte« (PrV) ausweist. Dafür bekommt sie nun eine Rente ausgezahlt: 500 Mark monatlich. Auf die einmalige Entschädigungssumme für Zwangssterilisierte, ganze 5.000 Mark, wartet sie noch heute. Im Dezember vergangenen Jahres hatte die Oberfinanzdirektion ihren Antrag abgelehnt. Begründung: Sie erhalte ja bereits eine Rente als PrV- Mitglied.

Anna Tasler will jedoch weiterkämpfen, so wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hat. »Ich habe gekämpft, damit ich nicht untergehe«, sagt sie heute. Auch nach dem Krieg. Weil sie in der Tschechoslowakei nicht mehr leben wollte, zog sie durch Deutschland, wurde einmal an der Zonengrenze von den Russen geschnappt, entkam, »tippelte« weiter, lebte »mal hier, mal dort«, bevor sie sich endgültig im Osten niederließ. Sie arbeitete, wo man sie brauchte, in einer Putzkolonne, als BVB-Schaffnerin und in den letzten Jahren als Hausmeisterin. Sie demonstrierte am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, und sie war eine der ersten, die am 2. Januar dieses Jahres in der Gauck-Behörde den Antrag abholte, um zu erfahren, ob vielleicht die Stasi sie daran gehindert hat, in die DDR-Verfolgtenorganisation aufgenommen zu werden. Eine resolute, eine vitale Frau. Doch was 1942 begann, ist noch lange nicht zu Ende. Ravensbrück ist stärker als die Gegenwart.

Vor zehn Jahren brach Anna Tasler zusammen. Das war, nachdem sie ihre Tochter im Rheinland besucht hatte. Sie war von Annas Eltern, die nach dem Krieg in den Westen geflüchtet waren, aufgezogen worden. Zum ersten Mal erzählte Anna Tasler ihrer Tochter, wer ihr wirklicher Vater war: kein an der Front gefallener deutscher Soldat, sondern ein Kriegsgefangener. Der Aufenthalt in dem kleinen katholischen Dorf nahm ein schreckliches Ende: Anna Tasler wurde von ihrer Tochter verstoßen. Zurück in Ost-Berlin, mußte sie sich in der Charité behandeln lassen. Die Bilder ihrer Tochter hängte sie irgendwann ab. Sie wollte Ruhe haben, aber sie fand sie nicht, bis heute: »Wissen Sie, wenn ich manchmal aus dem Fahrstuhl aussteige, dann sehe ich sie hier vor meiner Tür stehen. Ich denke immer wieder: Vielleicht kommt sie ja.« Severin Weiland