Um die Ecke gekommen

Das Hamburger Independent-Label „L'Age d'Or“ auf Industrie-Kurs  ■ Von Till Briegleb

Herbert Achternbuschs Satz von der Chance, die man nicht hat, die man aber trotzdem nutzen muß, gilt seit zehn Jahren für jeden deutschen Bandmusiker, der sich ins Land der Professionalität aufmachen will. Nach der kurzen exotischen Phase zwischen 1977 und 1982, in der alles möglich zu sein schien, kam die Talfahrt, und danach herrschte Dunkelheit. Hilferufe aus den Sümpfen der Kreativität verhallten ungehört, und die Major-Plattenfirmen, die in haltloser Goldgräberstimmung den Markt abgekauft hatten, zogen die Zugbrücken hoch. Die allgemeine Verunsicherung ging so weit, daß eine neue deutsche Band Mitte der Achtziger kaum noch Auftrittsmöglichkeiten fand. Dabei wuchs die Zahl der Musiker und neuen Gruppen jährlich. Aber die meisten von ihnen fanden kein Umfeld, das ihrer Entwicklung förderlich gewesen wäre. Die Wiederholung englischsprachiger Musik mit schlechten Mitteln wurde zum Normalzustand und Problem einer ganzen Musikergeneration. Deutsch singen vertrug sich plötzlich nur noch mit heiterem Schwachsinn und Punkrock.

Dieser absolute Tiefpunkt eines eigenen musikalischen Selbstverständnisses markierte den Ausgangspunkt für die Geschichte der Plattenfirma L'Age d'Or. Selbst Neider müssen zugeben, daß sie seit über fünf Jahren Pioniergeist beweist. Jetzt will L'Age d'Or durch einen spektakulären Vertrag mit der deutschen Polydor über den Insider-Status hinauskommen. Bands und andere Labels, aber auch Fans und Kritiker machen sich Hoffnungen auf eine neue Morgendämmerung deutscher Popmusik.

Stattfinden soll sie in einem lichtarmen Keller in Hamburg, direkt neben dem 'Spiegel‘-Hochhaus. Dort, unter dem Soundgarden-Studio, in dem nicht wenige Produktionen gemacht wurden, die richtungweisend für die neue deutsche Popmusik waren, haben Pascal Fuhlbrügge und Carol von Rautenkranz, die Gründer des Labels, mit ihrem neuen Kompagnon Wolfang Meinking inzwischen ihr eigenes Büro. Bis vor einem Jahr noch hatte das Label in einer Abstellkammer von Fuhlbrügges Wohnung residiert.

Begonnen haben Fuhlbrügge und von Rautenkranz im Juni 1986, um den Mißstand zu beheben, daß man in Hamburg keine Hamburger Bands mehr live erleben konnte. Sie initiierten eine Konzertreihe, in der in den Jahren 1986 bis 1989 so ziemlich jede Hamburger Band aufrat, die später auch Platten machen sollte. Kolossale Jugend, Brosch, Die Erde, Erosion, Girls under Glass, Jesus Burning Liquor, Hallelujah Ding Dong Happy Happy, Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, Cpt. Kirk und viele andere Gruppen, die in dieser Zeit einen eigenen musikalischen Ausdruck entwickelten, bewiesen mit ihrer späteren erfolgreichen Arbeit, daß das Gespür der beiden richtig gewesen war. „Die Ausgangsüberlegung“, sagt Fuhlbrügge, „war, daß diese Bands die Chance bekommen mußten, gut zu werden. Es waren Musiker, die wieder von vorne anfingen und erst einmal alles neu lernen mußten. Und damals war das Problem, daß diese Bands noch nicht einmal bis zur ersten Platte kamen.“

Anders als die meisten anderen Independent-Labels verzichtete L'Age d'Or bei ihren ersten Plattenproduktionen darauf, sich mit lukrativen Lizenzpressungen zu finanzieren. Bis heute haben sie ausschließlich Produkte ihrer eigenen Bands veröffentlicht und stehen mit diesem Konzept in Deutschland einzigartig da.

Auch Musiker anderer Labels haben von dieser mühseligen Aufbauarbeit profitiert. Eine Band wie Blumfeld, die bei Alfred Hilsbergs „What's so funny about“-Label unter Vertrag steht und Chancen hat, in diesem Jahr zur wichtigsten deutschsprachigen Band aufzusteigen, wäre ohne die Erschließungspolitik von L'Age d'Or wahrscheinlich nicht einmal entstanden.

Aus dem eigenen Katalog ragt die Band Kolossale Jugend, in der Fuhlbrügge selbst Gitarre spielte, relativ einsam hervor. Die Band, die auf L'Age d'Or zwei LPs veröffentlicht hat, überstand die euphorischen Kritiken nicht und löste sich auf. Ihr Konzept kantiger Popsongs mit deutschen Texten wird von Blumfeld, aber auch anderen Bands wie Cpt. Kirk und Brüllen, der Nachfolgegruppe des Kolossale-Jugend-Sängers Kristof Schreuf, weiterentwickelt und hat inzwischen ein Qualitätslevel erreicht, das hoffentlich endlich die Lücke zwischen Independent- und Industrieproduktion zu schließen vermag.

Bleibt abzuwarten, ob sich der Vertrag von L'Age d'Or mit Polydor als Schritt in die richtige Richtung erweist. Immerhin scheint er, allen Unkenrufen von Verrat und Ausverkauf zum Trotz, eine faire und produktive Zusammenarbeit zwischen einer unabhängigen Plattenfirma und einem Marktriesen zu versprechen. Polydors Chef der Abteilung „Progressiv“, Tim Renner, der dort unter anderem Phillip Boa und die Jeremy Days betreut, hat mit L'Age d'Or eine Abnahmegarantie von 3.000 bis 4.000 Stück ausgehandelt, die es den Bands erlaubt, relativ entspannt ihre Produktionen zu unternehmen. Zeichnet sich ein kommerzieller Erfolg ab, übernimmt Polydor die weitere administrative Arbeit. Das Umschlagen von Independent-Mechanismen auf einen industriellen Standard geschieht also fließend.

Fuhlbrügge zur unausweichlichen Frage, ob dieser Vertrag nicht erneut den Ausverkauf des kreativen Potentials einläutet: „Ganz im Gegenteil. Es sichert unseren Bands ein Arbeiten über längere Zeit. Die Alternative wäre gewesen, wir hätten uns Bands rauskaufen lassen müssen. Genau dann wäre nämlich eingetreten, daß die Industrie sich die Sahnestücke abschöpft und wir die ewigen Talent-Scouts gewesen wären: auf eigenes Risiko; und wenn die Industrie irgendwann Scheiße baut, dann macht sie uns alles kaputt.“

Gleichzeitig verbindet er diesen Schritt mit einer Kritik an den Arbeitsmethoden der Independent- Vertriebe: „Gut, ich hätte es lieber independent gemacht. Das Problem aber ist, daß da zu viele Leute auf ihrem Arsch gesessen haben. In den letzten Jahren, wo die Industrie wirklich geschlafen hat, hätte man eben was Schlagkräftiges installieren müssen, vertriebsmäßig. Das ist aber an der elenden Schlafmützigkeit gescheitert; daran, daß gar nicht erkannt wurde, was für eine Chance das ist, daß die Industrie jahrelang nicht einkauft.“ Der Vertrag, der erst einmal auf drei Jahre befristet ist, basiere auf einem Vertrauensverhältnis. „Wir reden halt mit denen, die haben eine Meinung dazu, und Renner hat durchaus 'ne Meinung, die interessant ist; wobei jetzt schon klar ist, warum Renner bei der Polydor ist und wir das hier machen.“

Die erste Band, die aus diesem neuen Verhältnis Nutzen schöpft, ist Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs. Ihre neue LP Absolut nicht frei erfährt unter dem neuen Stern eine Medienpräsenz, wie sie für eine Independent-Band die absolute Ausnahme ist. Aber auch die nächsten Veröffentlichungen — vorgesehen sind die Auricher Band Das Neue Brot, die als kommender Geheimtip der lustvoll-intelligenten Popmusik gehandelt wird, sowie Die Regierung aus Essen — dürfen sich dank dieser Verbindung einer Aufmerksamkeit sicher sein, die ihnen noch vor zwei bis drei Jahren versagt geblieben wäre. Weitere Stars in petto aus dem Stalll des Goldenen Zeitalters sind Die Sterne und Mastino. Besonders mit dem letzten Projekt, das neben von Rautenkranz persönlich aus dem ehemaligen Keyboarder von Die Erde, Horst Petersen, besteht und mit der Welttanzmusik liebäugelt, erweitert sich das musikalische Spektrum.

„Popmusik darf nicht dumm sein.“ — mit diesem etwas koketten Satz haben die Macher von L'Age d'Or ihre Promotion überschrieben. Er kennzeichnet zugleich die Label- Strategie. Mit demselben Maß an Klarheit, mit dem Fuhlbrügge & Co. rechtzeitig erkannt haben, daß das Problem der deutschen Musik ein Problem der Infrastruktur und nicht des Talents ist, haben sie auf zufällige Gewinne verzichtet und konsequent auf Musik gesetzt, die für sich selbst spricht. Daß dabei viele der alten Produktionen unausgegoren und musikalisch zu unentschieden waren, ist im Verhältnis zu dem von ihnen bereiteten neuen Terrain vernachlässigbar.

Was das Konzertpublikum anbelangt, scheint die Rechnung schon jetzt aufzugehen. Konzerte von L'Age-d'Or-Bands sind inzwischen in der Regel nicht nur in Hamburg restlos auusverkauft. Anscheinend geht es auch den Hörern ein wenig wie Fuhlbrügge, als er damit begann, sich um deutsche Bands zu kümmern: „Mir fehlte einfach was, wenn es da nichts gab, was von um die Ecke kommt.“