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: Viel geglotzt und nie geschaukelt

■ Kindheit heute: "Vom Schwinden der Sinne", Fr., 17.15 Uhr, N3

Drei Kinder hüpfen um eine Bank, klettern auf die Sitzfläche und springen quiekend wieder hinunter. Runde um Runde wiederholen sie das Spiel. Drei Meter weiter tost der Verkehr. Eine andere Szene: Schlammschlacht auf dem Spielplatz. Gierig patschen die kleinen Hände in den Matsch, daß es ordentlich spritzt. Kindheit heute. Für Stadtkinder heißt das: genügsam sein, sich mit dem Fußweg oder dem Spielplatz begnügen, auf freies Herumtollen außerhalb der vorgesehenen Zonen verzichten. Und zu Hause sitzen viele bis zu neun Stunden täglich vor dem Fernseher. Das erfuhr ein Hamburger Grundschullehrer von seiner Klasse. Kinder heute bewegen sich viel zu wenig. Dieser Beobachtung geht Reinhard Kahl in seinem Film nach. Er ist in einer Hamburger Grundschule auf einen Jungen getroffen, der noch nie geschaukelt hatte, auf Kinder, die Schwierigkeiten beim Rückwärtsgehen haben, und auf kleine Mädchen, die in der Pause so herumsitzen — und auch so aussehen — wie herausgeputzte Jugendliche. Kahl zeigt, welche Auswirkungen der Bewegungsmangel haben kann: Koordinationsschwierigkeiten, die auch die intellektuelle Entwicklung hemmen. Denn: „Wo sich Kinder nicht bewegen, kann sich auch der Kopf nicht bewegen.“ Der Film widmet sich einem neuartigen Phänomen, mit dem LehrerInnen zwar schon seit geraumer Zeit zu tun haben, doch oft, ohne es zu verstehen. Ebensowenig wie viele von ihnen die Tatsache einordnen können, daß die Rechenschwäche heute bei GrundschülerInnen verbreiteter ist als die Lese- und Rechtschreibschwäche. Um den Folgen des Bewegungsmangels abzuhelfen, wird an der vorgestellten Schule psychomotorisches Extraturnen angeboten. Fast die Hälfte der Kinder muß daran teilnehmen. Unter kinderärztlicher und krankengymnastischer Anleitung lernen sie dort schaukeln, balancieren, hüpfen, laufen, fallen. Bewegungsabläufe, die zur Entwicklung gehören, denn vor dem Begreifen steht das Greifen. Wo sich Sinn ergeben soll, müssen die Sinne ausgebildet sein. Weil Bewegung oft nicht mehr auf natürliche Weise gelernt und erfahren werden kann, sondern allenfalls in abgezäunten Arealen, muß sie künstlich hergestellt werden.

Der Film verzichtet auf alles Spektakuläre. Sensibel widmet er sich einem brisanten Problem, über das viel zu wenig bekannt ist. Überflüssig nur, daß der Autor noch seinen Traum von einem besseren Kinderleben einflicht: bunte Bilder von hübschen Kindern, die neugierig in einem mit Krimskrams vollgestopften Teeladen herumstöbern. Der Film wäre ohne den romantischen Exkurs eindrucksvoller. Er wird im Frühsommer noch einmal in N3 wiederholt. Heide Soltau