Andreotti beendet Wurschtelei

Vorgezogene Neuwahlen in Italien/ Oppositionsparteien von Kommunisten bis Grüne in der Krise/ Starker Neuzugang kleinerer Parteien von Rassisten bis hin zu Pensionären erwartet  ■ Aus Rom Werner Raith

Gute Tradition hat Bestand — der Wahlspruch vieler italienischer Weinfirmen (auch der Panscher) gehört in diesen Tagen zu den meistzitierten im Lande. Angewandt wird er freilich nicht auf gutes Getränk oder Kulinarien, sondern auf die hohe Politik: Zum fünften Mal hintereinander wird eine Legislaturperiode vorzeitig zu Ende gehen. Nun soll — statt im Hochsommer oder Frühherbst — am 5. und 6. April gewählt werden. Vorausgesetzt, der unberechenbare Staatspräsident Francesco Cossiga überlegt es sich nicht noch einmal anders. Ihm käme ein noch früherer Termin zupaß, denn sein Mandat läuft Anfang Juli ebenfalls aus. Im Juni muß sein Nachfolger gewählt werden, und Cossiga möchte, nach seinen eigenen Worten, zu gerne noch „den nächsten Ministerpräsidenten bestimmen“.

Soziale Probleme, Katastrophen und Morde

Regierungschef Andreotti, der vor rund zweieinhalb Jahren ins Amt kam und damals eine Fünfparteienregierung aus seinen Christdemokraten, den Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberalen und Republikanern leitete, mußte bereits vor einem Jahr das Ausscheiden und die sich verstärkende Opposition der industriegesponserten Republikaner hinnehmen; damals gab er die Parole „tirare a campare“, Weiterwurschteln, aus. Der Unentschiedenheit der vormals entschlossener voranstürmenden Sozialisten war es dann zuzuschreiben, daß die oftmals aufbrechenden Gegensätze immer wieder notdürftig überkleistert und die großen Probleme des Landes niemals angepackt wurden.

Das Gesundheitswesen liegt völlig im Argen. Das soziale Netz ist bis zur Unkenntlichkeit zerrissen, seit die Familienverbände sich auflösen und die staatliche Versorgung Kinderreicher, Alter und Geschädigter nicht vorankommt. Mangelnde Ordnungspolitik und die von Politikern geschlagene Justiz hat der Republik zwar die höchste Zahl von Polizisten pro Einwohner beschert (einer pro zweihundert Bürger — Deutschland einer pro 420), doch die Mafia- Morde sind in die Höhe geklettert, auf mittlerweile mehr als 1.200 pro Jahr. Den täglichen Öko-Katastrophen, von Ölpest in den Häfen bis zum Smog, stehen die Administratoren hilflos gegenüber. In der Außenpolitik richtet der playboymäßig auftretende Gianni De Michelis ein Desaster nach dem anderen an.

Die Regierung konnte sich all das leisten, weil die bisher größte Oppositionspartei, die Kommunisten, durch den Zerfall des Realsozialismus in eine tiefe Krise geraten sind, ihre Partei aufgelöst haben und mit der neuen Formation „Partito democratico della sinistra“ (Demokratische Linkspartei) nicht so recht vorankommt: Die Wähler kreuzen bei Regional- und Lokalabstimmungen zu großen Teilen lieber die nostalgische Formation „Rifondazione comunista“ (Kommunistische Erneuerung) an. Die aber bietet vor lauter Freude über ihren unverhofften Erfolg noch keine programmatischen Alternativen zur Regierung.

Die Grünen sind ebenfalls in der Krise, weil sie der Umarmung eines Teils der ehemaligen Radikalen Partei zum Opfer gefallen sind und ihre ehemalige Bürgernähe immer mehr verlieren. Bleiben noch die Neofaschisten, die allerdings ihrerseits wieder ganz den Staatspräsidenten unterstützen und so auch nur mäßige Opposition betreiben.

Industrielle als eigentliche Opposition

So wurde denn auch unversehens eine bisher in der Öffentlichkeit eher zurückhaltende Gruppe zur eigentlichen Opposition — die Industriellen. Fiat-Chef Agnelli und sein Generalmanager Romiti ebenso wie Reifen- Pirelli und Olivetti-Eigner de Benedetti griffen in den letzten Monaten in immer schärferer Weise die „völlige Ineffizienz“ (Agnelli) der Regierung an, und verurteilten ihr „amateurhaftes Dahinschlingern“ (de Benedetti). Sie gaben auch nicht nach, als Andreotti zur Gegenattacke schritt und dem Land vorrechnete, wieviel Geld ein „an die Privatindustrie glaubender Bürger seit zehn Jahren verloren hat, wenn er Fiat-, Pirelli- oder Olivetti- Aktien gekauft hat“ — mehr als 90 Prozent des seinerzeitigen Geldwertes nämlich.

Daß die Regierung aus dem Desaster der Opposition nicht die Konsequenzen gezogen und die Neuwahlen zur Stabilisierung ihrer eigenen Macht schon viel früher ausgeschrieben hat, liegt auch noch an anderen Faktoren: Außerhalb des derzeitigen Parlaments stehen gleich mehrere Gruppen, denen Wahlforscher und Abstimmungsergebnisse bei Teilwahlen in den letzten zwei Jahren einen beträchtlichen Erfolg versprechen.

So haben zum Beispiel die teilweise mit rassistischen, jedenfalls aber fremdenfeindlichen Parolen arbeitenden oberitalienischen „Ligen“ in einzelnen Regionen wie der Lombardei bis zu zwölf Prozent der Stimmen, in einzelnen Großstädten wie Mailand oder Brescia sogar über zwanzig Prozent eingefahren und wurden stellenweise zur stimmstärksten Partei. Vom Süden her droht die demokratische Erneuerungsbewegung des ehemaligen antimafiosen Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando. Mit seiner „Rete“ (Netz) kann er auch eine beträchtliche Anzahl honoriger Politiker aus allen Parteien, dazu zahlreiche Intellektuelle und auch Gewerkschafter in die Arena schicken. Und selbst der Pensionärsverband, bisher bei ein bis zwei Prozent dümpelnd, erwartet einen Auftrieb: angespornt vom großen Erfolg der Porno-Frau Ilona Staller („Cicciolina“) bei den vorigen Wahlen, hat er ebenfalls eine in Italien hochgeschätzte Nacktdarstellerin aufgeboten, Moana Pozzi. Die bringt, im Gegensatz zu der eher ruhigen Ilona Staller, auch noch eine Menge Intellekt mit, hat Bücher geschrieben und wird derzeit in allen Fernsehkanälen bereits als künftige Abgeordnete von Talkshow zu Talkshow gereicht.