Wo bleiben die vielen Rußland-Päckchen?

63 Prozent der PetersburgerInnen haben von Paketen mit humanitärer Hilfe gehört — aber keines zu Gesicht bekommen  ■ Aus Petersburg M. Korschow

„Ich weiß beim besten Willen nicht, wohin diese ganzen Hilfssendungen verschwinden!“, versichert mir Tamara Moissewa, Chefin der 35. Lagerhalle des St. Petersburger Handelshafens. „Ich sehe wie hier Hunderttausende Tonnen Fleisch, Medikamente, Mehl entladen werden. Davon könnte man gleich mehrere Städte wie Petersburg satt kriegen. Aber zu sehen bekommt man das alles nirgendwo.“

Der Petersburger Handelshafen — mit einer Warenumschlagskapazität von über zehn Millionen Tonnen im Jahr — ist von Lebensmitteln für die Stadt und ganz Rußlands buchstäblich verstopft. In Strömen treffen Güter dieser Art auf den Bahnhöfen ein, und beinahe täglich landen auf dem Flughafen Flugzeuge mit Arznei- und Nahrungsmitteln. Geschickt werden sie aus aller Herren Länder.

Aber wo bleibt das alles? Nach einer soziologischen Umfrage, die am 18. und 19. Dezember 1991 in St. Petersburg durchgeführt wurde, hatten 63 Prozent der Bürger zwar schon von den Paketen mit der humanitären Hilfe gehört, aber noch nicht eines davon gesehen. 24 Prozent der Petersburger vertrauen überhaupt niemandem, was die Verteilung dieser Hilfe angeht, 29 Prozent setzen ausschließlich auf ausländische Organisationen. Und lediglich drei Prozent glauben, daß die Sachen beim Komitee des Bürgermeisteramtes, das sich mit der Verteilung des Großteils der westlichen Hilfe beschäftigt, in guten Händen sind.

Der Vorsitzende des Komitees, Salujanow, erklärte im Stadtrat, die Lebensmittel würden vor allem an Kranken- und Waisenhäuser sowie Schulen weitergeleitet. Einen gewissen Teil bekämen auch die religiösen Gemeinden und ein kleiner Rest bliebe dann noch zur Verteilung an die Bevölkerung übrig. Der Oberbürgermeister der Stadt, Anatolij Sobtschak, verkündete kürzlich sogar: „Ab Anfang Februar stellen wir die kostenlose Verteilung von Hilfsgütern ein. Alles geht in den Verkauf und der erzielte Erlös wird entweder unter die Armen verteilt oder in die Fonds zur Unterstützung der Bauern fließen.“ Was es allerdings bis heute nicht gibt: Kriterien für die Verteilung an Menschen unterhalb der Armutsgrenze — und zu diesen zählt bereits knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung.

Man kann nicht behaupten, daß die gesamte Hilfe verschwindet. Manchmal — genauer gesagt: ein bis zweimal im Jahr — wird Trockenmilch an Kinder verteilt, pro Kind eine Zweikilogrammpackung. Einige Male erhielten die Studenten St. Petersburgs Tagesrationen aus den Beständen der Bundeswehr und aus den Berliner Senatsreserven. Auch Medikamente und Einwegspritzen werden glücklicherweise nicht alle auf dem Schwarzmarkt verkauft — manches davon trifft wirklich in den Krankenhäusern ein. Schleierhaft allerdings bleibt, wer all das Fleisch, die Kartoffeln und die Konserven aus dem Ausland ißt.

Einige der Hilfsgüter kann man auf dem Schwarzmarkt und in privaten Kiosken käuflich erwerben. Dennoch enden alle Anzeigen wegen Diebstahls gegen die Händler gewöhnlich wie das Hornberger Schießen: „Die geräucherte Importwurst, die wir für 250 Rubel pro Stück verkaufen, hat uns eine arme Oma mit 120 Rubel Rente im Monat verkauft“, lautet gewöhnlich die Antwort der Beschuldigten. Wjatscheslaw L., einer der erfolgreichsten im St. Petersburger Privathandel, erklärte mir einmal: „Solide Geschäftsleute und Händler weisen Waren normalerweise zurück, bei denen sie den Verdacht haben, sie könnten aus den Beständen der humanitären Hilfe gestohlen sein. Damit geben sich doch nur die kleinen Schakale ab!“

Unterdessen schwillt der Strom humanitärer Hilfe weiter an. Allein im Leningrader Ostsee-Bezirk, weiß der zuständige Staatsanwalt Jurij Anisimow, sind für die Aufbewahrung ausländischer Lieferungen zwanzig Großlager zur Verfügung gestellt worden. Wobei es allerdings niemanden gibt, der sie bewacht, so daß...

Das erinnert an einen Ausspruch von Kaiser Franz-Josef. Als Zar Alexander III. bei ihm zu Besuch war und ihn bei der Tafel peinlich berührt darauf aufmerksam machte, daß das Bein eines vergoldeten Kapauns abhanden gekommen war, soll der alte Kaiser gelassen geantwortet haben: „Wenn's scho schaun, wie's bei uns im klein' dahergehn tut, dann wissen's a, wie's bei Eahna daham im groß'n dahergehn tut!“

Übersetzung: Barbara Kerneck