Noske, CIA und Cuba libre

Fragen an das „unabgegoltene Projekt Sozialismus“ in der Westberliner Akademie der Künste/ Walter Jens „präludierte“, keine Antwort wußten: Günter Grass, Gregor Gysi, Heiner Geißler und andere  ■ Aus Berlin Matthias Geis

Glückwunsch an Zdenek Mlynar. Der ZK-Sekretär zu Zeiten des Prager Frühlings war verhindert. So entging er der Peinlichkeit, auf die vielen „offenen Fragen“, die am Samstag abend in der Westberliner Akademie mit viel Emphase formuliert wurden, auch keine Antwort zu wissen: „Ist noch irgend etwas virulent geschichtsmächtig am Sozialismus, ist noch etwas unabgegolten?“ oder „Ist nichts mehr übrig von seinem Ideenbestand?“ — Viel schlechter als Mlynar erging es den vielen Interessierten, die in Erwartung einer Antwort auf die Frage nach der Zukunftshaltigkeit des Sozialismus ohne Eintrittskarten geblieben waren. Mit einem weder dem Thema noch der Gediegenheit des Ortes angemessenen Aufruhr erzwangen sie sich den Einzug ins Plenum und mußten dann zur Strafe drei Stunden lang stehend das deprimierende Für und Wider der auf dem Podium versammelten Expertenrunde über sich ergehen lassen. Schon wegen der vom Trommelwirbel auf die Eingangstüren noch schmerzenden Fäuste dürfte sie die Einsicht besonders hart getroffen haben, daß die Entfaltung jedes einzelnen Diskutanten nicht schon zwangsläufig die Erkenntnis aller befördert. Die hochgesteckte Erwartung der Interessierten mit und ohne Eintrittskarte jedenfalls entpuppte sich als „blinde Utopie“; von Blochs „gelehrter Hoffnung“, die Akademiepräsident Walter Jens in seinem „Präludium“ erwartungsgemäß bemüht hatte, blieb am Ende nur die Frustration eines versauten Samstag abends.

Dabei hatte alles vielversprechend begonnen, mit Gregor Gysis Überzeugung, die als Motto nicht nur für den Sozialismus, sondern notgedrungen auch für die Veranstaltung herhalten könnte: „Im Untergang liegt auch eine Chance, über Vieles ganz neu nachzudenken.“ Das Resultat allerdings kam prompt, so daß man sich schon fragte, ob Gysi sich auch genügend Zeit fürs Nachdenken gelassen hatte: „Die Ideen des Sozialismus sind wesentlich stärker als das, was der Realsozialismus hervorgebracht hat.“

Aus Pietätsgründen, oder warum auch immer, selbst Heiner Geißler versuchte sich anfangs noch in Äquidistanz zu den Systemen: Zwar könne man nun wirklich nicht behaupten, der Realsozialismus habe gewonnen, aber der Kapitalismus eben auch nicht. Und mit „der sozialen Frage“ stellte er den von Johano Strasser eingangs formulierten noch eine weitere Frage unbeantwortet zur Seite. Nur einer, der amerikanische Publizist Melvin Lasky, manövrierte sich mit seinen Thesen von Anfang an ins Aus: Der Sozialismus, so Lasky, sei „ein vollendetes Projekt, eine Tyrannei, die sich selbst zerstört hat“; als Idee sei er allenfalls der „pubertären Vorstellungswelt von Vierzehnjährigen“ angemessen. Lasky also — im Sinne einer offenen Befragung sozialistischer Ideen nach ihrer Zukunftshaltigkeit — eine eklatante Fehlbesetzung, brachte Günter Grass auf Touren, der mit dem Realsozialismus auch gleich die vielen freiheitlichen Varianten der Idee diffamiert sah: „Warum erlauben Sie sich noch heute, uns diese Ammenmärchen zu erzählen?“ ging er Lasky an und enttarnte diesen so nebenbei als Herausgeber des encounter, einer „vom CIA finanzierten“ Kalten- Kriegs-Publikation. Na bitte!

Zurückhaltendere Menschen, wie der Ostberliner Schriftsteller Christoph Hein oder der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse, kamen an diesem Abend nur schwer zu Wort. Thierse, der sich eingangs noch gegen allzu glatte Antworten verwahrt und „schonungslose Selbstkritik“ eingefordert hatte, bekam von Grass das Prädikat „biedere Sozialdemokratie“, ein Tiefschlag, von dem er sich während der folgenden Stunden nicht mehr erholen sollte. Als Grass später selbst auf die Seite der biederen Sozialdemokratie abzugleiten drohte, deren historische Verdienste er allzusehr gewürdigt hatte, kam das Verdikt aus dem Publikum: „Noske!“ Diesen Anwurf konnte er dann nur noch mit einem Aufruf zur Verteidigung Kubas vor der „lauernden“ Großmacht USA kompensieren — bei aller Kritik am Castro-Regime! „Jetzt sind wir bei Kuba“ stöhnte Lasky.

Je später der Abend, desto verzweifelter auch Moderator Johano Strasser. Dessen Hoffnung, „daß eine meiner Fragen auch mal eine Antwort findet“, blieb unabgegolten. — Letzter Versuch: „Setzen wir auf Selbstlauf der gesellschaftlichen Handlungen aller, oder müssen wir koordinierend eingreifen?“, pointierte er die historische Alternative. Wollte er damit wirklich Geißler herausfordern? Der jedenfalls knallte — von der bruttolohnbezogenen Rente über die Tarifverhandlungen bis zum Erziehungsjahr — seinen Mitdiskutanten die Instrumentarien der sozialen Marktwirtschaft um die Ohren und bürdete ihnen die Beweislast auf für das, was ohnehin keiner ernstlich behauptet hatte: Der Sozialismus könne es am Ende doch besser.

Aber weil — so Christoph Hein— „nichts tödlicher ist als der Erfolg, nichts anregender als der Bankrott“, hat der Sozialismus vielleicht doch noch eine Chance? Dann wird wohl auch die Geschichte dieses Abends in der Akademie der Künste neu geschrieben werden müssen.