Steuergünstiger Vater

■ Fast jedes zweite Kind in Ost-Berlin kam 1991 unehelich zur Welt/ Zieht die Vereinheitlichung der Rechtssysteme nun eine Trendwende nach sich?

Berlin. Auch am Ende des 20. Jahrhunderts scheinen verheiratete Eltern im Westteil der Stadt immer noch eine notwendige Voraussetzung für Kindererziehung zu sein: Vier von fünf Kindern wurden im vergangenen Jahr ehelich geboren. Im Ostteil hingegen hat diese Grundregel menschlichen Zusammenlebens keine derartige Bedeutung: Fast jedes zweite Kind kam dort im ersten Quartal des vergangenen Jahres unehelich zur Welt.

Prenzlauer Berg liegt an der Spitze der Statistik: 57,6 Prozent aller Kinder wurden von einer ledigen Mutter geboren, gefolgt von Weißensee und Friedrichshain mit ebenfalls mehr als 50 Prozent unehelichen Kindern. Das Schlußlicht bildet Zehlendorf mit 16,9 Prozent.

Nach der Vereinheitlichung der Rechtssysteme rechnen die Mitarbeiter des Bezirksamtes Prenzlauer Berg nun mit einer Angleichung der Ostberliner Zahlen an West-Berlin. »Alleinerziehende in der DDR wurden eben nicht diskriminiert«, interpretiert Siegfried Zoels, Jugendstadtrat von Prenzlauer Berg, die Zahlen. »Jetzt überlegen sich viele Frauen, ob sie ein Kind alleine großziehen.«

Zoels führt die Unterschiede in Ost und West auf den Status der Frauen zurück. In der DDR seien sie weniger als Abhängige betrachtet worden. Fast alle verdienten eigenes Geld, die Kinder waren untergebracht, die Rente bemaß sich nach dem eigenen Einkommen. Auch das Familienrecht kümmerte sich wenig darum, ob die Eltern des Kindes verheiratet waren.

»Unsere erste Frage bei Gesprächen ist jetzt immer die nach dem Status des Kindes«, erzählt eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Prenzlauer Berg. »Früher war das völlig egal. Es gab so viele Frauen, die ihr Leben selbständig ohne Mann gestaltet haben. Der Versorgungscharakter einer Ehe ist für uns völlig neu.«

Auch Paare haben in der DDR oft nicht geheiratet, wenn ein Kind unterwegs war.

In den seltensten Fällen ließen Eltern den Vater als solchen eintragen. Die Vaterschaftsanerkennung spielt praktisch erst seit der Einführung der Lohnsteuerkarte eine Rolle — aus steuerrechtlichen Gründen meldeten viele Ostberliner den Vater nachträglich an.

Auch den rechtlichen Unterschied zwischen ehelich und nichtehelich, verheiratet und nicht verheiratet lernen Ostberliner Eltern und Kinder jetzt kennen. So ist beispielsweise das Erbrecht bei nichtehelichen Kindern ebenso anders geregelt wie das Besuchsrecht des Elternteils ohne Sorgerecht — laut BGB von 1900, das die Jugendamtsmitarbeiterin für »dringend reformierbar« hält. »Da waren wir in der DDR weiter als die Gesetzesschreiber vor 100 Jahren.«

Das neue Rechtssystem scheint seine Auswirkungen auf Kinderwünsche zu haben. Seit der Wende beobachtet die Frau vom Jugendamt eine abnehmende Bereitschaft, ein Kind alleine zur Welt zu bringen. »Der Zustand der Partnerschaft spielt jetzt eine größere Rolle bei der Überlegung, abzutreiben«, berichtet sie. Auch die Geburtenzahlen zeigen, daß die Entscheidung für ein Kind in Ost-Berlin schwerer fällt als früher. Wurden dort im März 1990 noch 1482 Kinder geboren, waren es 1991 nur noch 822. Aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor. jgo