Ein Paradigmenwechsel ist fällig

Nicht nur Re-Investitionen illegaler Gelder bedrohen die Demokratie: auch die Toleranz für massive Gesetzesverstöße ganzer Wirtschaftszweige hilft mit/ Eurotaz-Essay zur Situation der ökonomischen Kriminalität  ■ Von Hans See, Frankfurt

Drogen-, Waffen-, Menschenhandel, Geldwäscherei, Kauf von Politikern und Beamten, Bankenskandale, betrügerische Konkurse, illegale Beschäftigung, Mietwucher, Bodenspekulation, schwerste Bereicherungsdelikte, und das weltweit: tägliche Meldungen bestätigen die massive Entfaltung der Wirtschaftskriminalität.

Die materiellen Schäden sind immens; von den immateriellen ganz zu schweigen. Die Verluste für den bundesdeutschen Fiskus zum Beispiel belaufen sich auf 150 bis 200 Milliarden Mark jährlich; und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Tausende von Drogentoten, die Verelendung der Dritten Welt, irreparable Umweltschäden — Folgen teilweise sogenannter legaler, zunehmend aber auch krimineller Kapital- und Rohstoffbeschaffung, -verwertung und -sicherung.

Unter Ausnutzung demokratischer Verfassungen, freier Wahlen und angeblich freier Marktwirtschaft werden schon lange Kartelle zugelassen, die preisdrückende Marktmechanismen weitgehend außer Kraft setzen. Kostenverursachende Sozial- und Umweltschutzgesetze werden von den Parlamenten in teilweise vorauseilendem Gehorsam oder unter massivem Druck mit Hintertürchen für die Wirtschaft versehen. Wo Schlupflöcher fehlen, werden die Gesetze in offener Mißachtung des Rechtsstaatsprinzips durch Kapitalflucht umgangen oder gebrochen. Kapitalflucht macht kapitalschwache Staaten gefügig. Die ohnehin schwachen Kontrollen wirtschaftlicher Macht beschleunigen wiederum die Kapital- und Machtkonzentration. Legitimiert die Demokratie diesen Prozeß, wird das Demokratieprinzip völlig auf den Kopf gestellt. Tatsächlich hindert längst nichts und niemand mehr die freie Wirtschaft daran, die nationalen Parlamente mit nahezu erpresserischen Methoden zur Deregulierung der Märkte und zur Erweiterung der Rahmenbedingungen für ein die Menschheit bedrohendes Wirtschaftswachstum zu zwingen.

Zu den Hauptproblemen gehört dabei, daß das Verständnis vieler Politiker, Journalisten, Staatsanwälte und Richter für die angeblich ewig notleidenden Unternehmer noch immer sehr groß ist. Geringer ist es, wenn sich gewerkschaftliche, genossenschaftliche, kirchliche Unternehmen krimineller Bereicherungsmethoden bedienen, da gibt es dann ab und zu noch Skandale; daß sie inzwischen ihre vormals identitätsstiftende Unschuld verloren haben, unterliegt aber keinem Zweifel mehr: auch sie betrügen nicht selten ihre Klientel, hinterziehen Steuern, fälschen Bilanzen, halten sich nicht an Gesetze, nicht einmal an ihre selbstgesetzten moralischen Prinzipien. „Der Betrug gegenüber dem Staat“, sagt der schleswig-holsteinische Generalstaatsanwalt Heribert Ostendorf, „ist bei vielen im eigenen Wertesystem integriert.“ Umfragen zufolge halten vier von zehn Bundesbürgern und jeder zweite Beamte nichts vom ehrlichen Steuerzahler.

Wir haben mittlerweile eine Weltwirtschaft, das heißt einen globalen Standortwettbewerb. Ein internationales Wirtschaftsrecht aber gibt es nicht. Unternehmer, die das Rechtsgefälle zwischen den Nationalstaaten nicht ausnutzen, gefährden ihre eigene Existenz. Daher findet der nationale Gesetzgeber vor den Augen des Weltkapitals nur Gnade, wenn er sich dessen Erwartungen und Forderungen bis an die Grenze des politisch Durchsetzbaren unterwirft. Kapitalhörige Parlamente und gefügige Gewerkschaften werden als Standortvorteile gelobt und belohnt.

Und die Juristen, auch die nicht unternehmensabhängigen, ziehen fleißig mit, unterschätzen bewußt oder unbewußt die Gefahr durch Wirtschaftskriminalität oder halten sich bei derlei Diskussionen bei vergleichsweise harmlosen Problemen auf, wie zum Beispiel jüngst die angesehenen Strafrechtler Gunther Arzt und Ulrich Weber mit ihrer Zurechnung des Ladendiebstahls zur Wirtschaftskriminalität.

Ein besonders aufschlußreiches Beispiel für die intakte Überlieferung kapitalfrommer Rechtsgelehrtenlogik an die jüngere Advokatengeneration bot kürzlich Monika Frommel, eine allseits als progressiv geschätzte Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Frankfurt am Main. In einem Interview mit der Studentenzeitung 'Pro‘ (11/1991) bezeichnete sie schon den „Denkansatz“ als „unsinnig“, die Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit dem Sozialstaats- und Demokratieprinzip zu diskutieren. Eine Einschränkung der sozialstaatlichen Leistungsmöglichkeiten durch milliardenschwere Steuerhinterziehung oder Subventionserschleichung konnte sie nicht erkennen. Mitunter verhedderte sie sich freilich: So behauptete sie zuerst, es gäbe keine eindeutigen Grenzen, was Steuerhinterziehung sei — dann aber definierte sie Steuerhinterziehung als Regelverstoß, der zum Bestandteil unseres Systems gehöre. „Dieses System funktioniert nur mit einer gewissen Toleranz gegen Regelverstöße.“

Einer „gewissen“ Toleranz? Tatsächlich ist es wohl eher eine ungewisse, vielleicht sogar gewissenlose Toleranz, wie sie im Ausbildungssystem der Juristen denn auch ihren Niederschlag findet. Indirekt gibt das Frau Frommel auch zu: Daß im Studium der Rechtswissenschaften Steuer-, Kapitalanlage-, Ausschreibungs-, Subventions-, Kredit- und Versicherungsbetrug, Börsen- und Gründungsschwindel, Preiskartelle, Wucher- und Schmiergeldpraxis kaum ein Thema sind, erklärt die ob ihrer messerscharfen Analysen gefürchtete Strafrechtlerin ungeniert damit, daß derlei nicht in das auf Falllösungen aufgebaute Staatsexamen paßt. Wie denn? Sind Wirtschaftsdelikte denn keine „Fälle“?

Krönung des Interviews: die Frage von Frau Frommel, ob es denn ökonomisch effektiver wäre, wenn alles in unserer Wirtschaft völlig legal ablaufen würde. Zudem sei der durch Wirtschaftskriminalität entstehende volkswirtschaftliche Schaden sowieso unberechenbar — worauf sie jedoch selbst berechnet: „Wenn zum Beispiel zehn Zahnärzte Steuern hinterziehen und diese wiederum beim Kauf von Ferienhäusern in Spanien zu viel Geld bezahlt haben, dann neutralisiert sich der Schaden.“ Oder etwa nicht? „Als Schaden bleibt die Zersiedelung der spanischen Landschaft übrig.“

Frau Frommel ist repräsentativ für viele Juristen und Staatswirtschaftler. Ihre Aussagen belegen besonders augenfällig, daß hier ein Paradigmenwechsel fällig ist, wollen wir die aufkommende Misere wenigstens noch einigermaßen steuern. Für den wahrscheinlich gewordenen Fall der Vereinigung Europas zum größten Binnenmarkt der Welt werden den demokratischen Institutionen Europas unter den gegebenen Umständen die Wirtschaftsverbrechen über den Kopf wachsen, besteht Gefahr, daß das kriminelle Kapital maßgeblich die Politik bestimmen wird. Das ist, machen wir uns keine Illusionen, ökonomisch sicher effektiver, als wenn man die Entscheidungen den demokratischen, sozial und ökologisch verantwortungsbewußten Kräften und Parteien und Bürgerinitiativen überläßt — letztere würden den Standort Europa für zahlreiche Unternehmer zweifellos unattraktiv machen. Ob allerdings die „gewisse Toleranz“ für kriminelles Wirtschaftsdenken und -tun soziale Sicherheit und damit langfristig auch den Weltfrieden garantieren kann, muß man füglich bezweifeln.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Frankfurt und Gründer sowie 1. Vors. von „Business Crime Control“