„Keine Alternative zum Gajdar-Plan“

Westdeutsche Osteuropa-ExpertInnen setzen auf Konkurrenz und Privateigentum in den GUS-Staaten  ■ Von Birgit Ziegenhagen

In der halboffenen schweren Eisentür steckt noch der Schlüssel. Bullige Räubergestalten mit Stoppelbart drängen aus der dunklen Gefängniszelle. Ihr Anführer mit schwarzer Augenklappe trägt ein riesiges Fleischermesser. „Endlich sind wir frei“, schreien sie und fletschen die übergroßen Zähne, die die Form eines in Rußland heiß diskutierten Wortes haben: „Zenij“ (Preise).

Wie der Karikaturist der Moskauer Satirezeitung 'Krokodil‘ haben es wohl viele in der ehemaligen Sowjetunion empfunden, als die Preise rasant in die Höhe schnellten. 32 Rubel für ein Kilo saure Sahne (Nowosibirsk), 56 Rubel für eine geräucherte Wurst (Jakutsk), 100 Rubel für einen Kochtopf (Moskau) oder 2.000 Rubel für die unentbehrlichen Winterstiefel (St. Petersburg)— Summen, die auch leidgeprüfte GUS-BürgerInnen mit Monatsgehältern von rund 500 Rubeln nur als Zumutung empfinden können. Die Gegner Jelzins stehen bereits auf der Matte, um aus der hilflosen Wut der Menschen Kapital zu schlagen. So fordert der Präsident des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow, den Rücktritt der Regierung: „Das Land hat die Nase voll von Experimenten.“ Überall gibt es Streiks, spontane Proteste und Demos, auf denen Altkommunisten mit Stalin-Bildern nach dem „starken Mann“ schreien. In Taschkent zertrümmerten wütende Studenten sogar Schaufenster und Geschäfte. Selbst der Adressat dieser Ausbrüche, Präsident Jelzin, gibt sich empört: Den „wirklich Schuldigen“, der Mafia, müsse das Handwerk gelegt werden.

Jegor Gaidar, russischer Vizepräsident und federführend bei den Reformen, hält derweil hartnäckig an seinem Konzept fest. Inspiriert vom amerikanischen Monetaristen Jefrey Sachs, findet er, was für Polen recht war, könne für Rußland nur billig sein. Gaidars Prognose für 1992: Nach einigen Monaten „unkontrolliertem Preiswachstum“ werde es ausreichend Waren geben. Parallel dazu erhöhe sich das Angebot aus dem Ausland. Der Kleinhandel wachse und mit ihm der Export. Gleichzeitig setze sich allerdings die Krise in der Industrie noch einige Jahre fort. „Das Leben wird sehr schwer“, hatte Jefrey Sachs verkündet. Damit es „langsam wieder normale Züge“ annimmt, seien 15 Milliarden Dollar aus dem Westen nötig.

KritikerInnen bezweifeln allerdings, daß die Bevölkerung mitspielen wird. Kristina Mänecke, Soziologin und Osteuropaexpertin an der FU Berlin: „Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in staatliche Autoritäten. Sie glauben: Die da oben haben Macht und Privilegien; das Volk hungert.“ Außerdem hätten Umfragen gezeigt, daß die meisten SowjetbürgerInnen gegen Marktwirtschaft seien. Generell hält die Soziologin den Zeitpunkt der Reformen für falsch. Solange der Zerfallsprozeß nicht abgeschlossen sei, so ihre These, würden weder politische noch wirtschaftliche Maßnahmen greifen. „Selbst Rußland kann noch in viele ökonomisch unterschiedlich starke Regionen zerfallen.“ Dies sei gefährlich, weil inzwischen jene autoritären Strukturen fehlen, die früher für den Zusammenhalt gesorgt haben. Wesentlich optimistischer beurteilt Götz Roland, Ökonom am Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche- und Internationale Studien, die Lage. „Jelzin hat das gemacht, was möglich war“, sagt er. „Noch besser wäre es zwar, gleichzeitig mit der Preisfreigabe die Staatsbetriebe zu privatisieren. Der Haken dabei ist: Eine Wirtschaft läßt sich nicht von einem Tag auf den anderen umstrukturieren.“ Positiv an den hohen Preisen findet Roland, daß die Verschwendung aufhört. „Die Preisreform löst viele Probleme. Es macht jetzt wieder Sinn, etwas zu produzieren, zum Beispiel Kinderschuhe. Die wurden bisher zu staatlichen Preisen verkauft, die unter den Produktionskosten lagen. So haben die Betriebe regelmäßig Verluste gemacht und schließlich ganz auf die Produktion verzichtet. Das wird jetzt anders.“ So, wie der Prozeß anlaufe, sei alles völlig normal: „Daß Geschäfte gestürmt werden oder ein Militärputsch stattfindet, es Streiks und Aufstände gibt, damit muß man rechnen.“ Ein Handikap hat Roland allerdings übersehen. Produktion und Verteilung liegen darnieder; es gibt keinerlei Konkurrenz, die für Preisstabilität sorgen könnte. Noch immer befindet sich der Markt in der Hand monopolistischer Staatsbetriebe, die die Preise willkürlich festlegen, solange die Regierung keine Obergrenze setzt. Um Abhilfe zu schaffen, müßten die Unternehmen an die Belegschaft verkauft werden, schlägt Barbara Dietz vom Münchner Osteuropa-Institut vor: „Gleichzeitig müßte garantiert werden, daß die Bauern Maschinen und Saatgut erhalten oder die Bäcker Mehl, damit langsam ein Eigentumsgefühl entsteht.“ Nur so mache die Freigabe der Preise einen Sinn.

In die gleiche Kerbe haut Ulrich Weißenburger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Es müssen selbständige Unternehmen entstehen, die in Konkurrenz zueinander wirtschaften, egal ob das Privat-, Staats- oder Pachteigentum ist“, sagt er. Entscheidend sei, daß darüber hinaus Konkurrenz bei der Verteilung entstehe, „in allen Bereichen, die für die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung nötig sind“. Ein Zurück, da sind sich die Fachleute einig, dürfe es in der jetzigen Situation nicht geben. Den Umweg über Haushaltsausgleich, wie ihn der sowjetische Ökonom Jawlinski vorschlägt, lehnen sie ebenfalls ab. „Ein solcher Weg kann nur über das Schließen der staatlichen Betriebe funktionieren“, betont Klaus Segbers von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen, „denn ohne Subventionen müssen die dichtmachen.“ Resultat: neben steigenden Preisen ein sprunghaftes Anwachsen der Arbeitslosigkeit. „Das steht keine Regierung durch“, sagt Segbers, „deshalb gibt es keine Alternative zum Gajdar-Plan.“ Allerdings muß er zugeben: „Man gibt sozusagen eine Medizin, ohne vorher zu wissen, ob sie wirklich Milderung bringt oder den Zustand noch verschlimmert.“