DDR-Waffenfabrik im Angebot der Krupp-Erben

Schalck-Golodkowski sollte im Auftrag des DDR-Verteidigungsministeriums eine komplette High-Tech-Munitionsfabrik im Westen organisieren/ Embargobruch durch Umweg über Österreich/ Aktion nach Gesprächen im Frühjahr 1989 abgeblasen  ■ Von Thomas Scheuer

Bonn (taz) — Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski höchstpersönlich wies „aus dringenden dienstlichen Gründen“ die Bereitstellung der Flugtickets und der Reisezahlungsmittel für seine Sendboten an. Am 18. Dezember 1988 hob das „Verhandlungskollektiv“ mit Flug IF 520 von Berlin-Schönefeld in Richtung Wien ab. Vier Tage harter Verhandlungen im Parkhotel in Baden bei Wien standen bevor. Die Mission der DDR-Unterhändler war heikel: Sie sollten im Westen eine komplette Produktionsanlage für Munition und Raketentreibstoffe anschaffen.

„Die Schaffung einer eigenen Produktionskapazität für Raketentreibmittel“ sollte, so lautete der anfangs der 80er Jahre erteilte Auftrag des SED-Politbüros, der „ökonomischen Sicherstellung der Landesverteidigung“ ebenso dienen wie dem „speziellen Export“ in den Westen. Installiert werden sollte die Anlage auf dem Gelände des VEBs Sprengstoffwerk Gnaschwitz nahe Dresden. Das Geheimprojekt lief unter den Titeln „Objekt Gnaschwitz“ oder einfach „Vorhaben T“. T wie Treibmittel.

Zunächst verhandelten die Ostberliner mit der CSSR. Die dortigen Genossen waren jedoch mit dem Wiederaufbau ihres durch eine Havarie schwer beschädigten Semtin- Werkes, aus dem der berühmt-berüchtigte Plastiksprengstoff Semtex stammt, ausgelastet. Also sah man sich im NSW, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, um. Dort aber unterliegt solche Rüstungstechnologie strengsten Embargobestimmungen. Die Firmen Kemira Oy in Finnland und Nobel Chematura in Schweden zeigten sich zwar lieferwillig, erhielten aber keine Exportgenehmigungen.

Derweil wurden die Militärs in Ostberlin ungeduldig. Die Planerfüllung war gefährdet. DDR-Verteidigungsminister Keßler persönlich machte Dampf, „weil davon die ganze Panzermodernisierung, das Panzerabwehrlenkraketen-Programm und die Hubschraubermodernisierung abhängt“.

Das Ostberliner Regime schickt den Embargo-Joker ins Rennen: Alexander Schalck-Golodkowski, Stasi-Oberst und Chef des Schattenimperiums „Kommerzielle Koordinierung“ (KoKo). Schalck erhält den Auftrag, über sein Firmennetzwerk die Fabrik zu beschaffen. Gewünscht wird vom Feinsten: Ein „kompletter funktionsfähiger Anlagenkomlex, der dem fortgeschrittenen internationalen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht“. Heute bestreitet Schalck in seinen Vernehmungen durch das Bundeskriminalamt eine persönliche Beteiligung am illegalen Embargohandel zu DDR-Zeiten. Wie faustdick der Mann lügt, beweist der „Vorgang T“. In einer Vereinbarung zwischen dem KoKo- Chef und dem Ministerium für chemische Industrie heißt es unzweideutig: „Zur Sicherung des Importes an Spezialausrüstungen sowie des Know-how aus den auf diesem Gebiet wissenschaftlich-technisch führenden Nato-Staaten sind durch geeignete Maßnahmen die Embargobestimmungen zu durchbrechen.“ Weiter: „Die mit diesem Importvorhaben verbundenen inner- und außerstaatlichen Aktivitäten unterliegen zur konsequenten Sicherung einer konspirativen Arbeit im Interesse des zu erzwingenden Embargodurchbruchs der strikten Geheimhaltung.“

Schalck, der sich bis in Details persönlich um den „Vorgang T“ kümmerte, setzte einen Vertrauten in Marsch: Dieter Uhlig, den für Waffenhandel zuständigen Leiter seiner Hauptabteilung II. Der wiederum schnappte sich den Genossen Werner Weber, den Chef der „Privatfirma“ Camet.

Die Camet gehörte zu jenen KoKo-Firmen, die gleichzeitig der Hauptverwaltung Aufklärung und KoKo unterstellt waren. Über Webers Camet liefen die umfangreichen Fleischgeschäfte des bayrischen Metzger-Clans Gebrüder März mit roten Bullen und toten Schweinen. Gleichzeitig mischte Weber im Waffenhandel mit. Beste Kontakte pflegte Weber zum österreichischen Munitionshersteller Hirtenberger AG. Über den Kanal Hirtenberger hatte schon die westdeutsche Rüstungsschmiede Fritz Werner eine Patronenfabrik in die DDR geschleust. Bei den Hirtenbergern waren die KoKo-Späher auch dieses Mal an der richtigen Adresse. Nach ersten Sondierungen melden sie ihrem Chef Schalck: „Mit HP als Auftragnehmer der DDR-Seite ist die Realisierung eines derartigen Anlagenimportes auch unter Embargo- Bedingungen prinzipiell möglich.“ Eine KoKo-Notiz vom April 1988 hält dann fest: „Die Firma Hirtenberger ist bereit, den Anlagenexport als Generallieferer zu übernehmen und die internationale Koordinierung und Kooperation zu sichern.“ Ende April 1988 schlägt KoKo-Chef Schalck selbst förmlich vor, „mit der Firma Hirtenberger Varianten für eine Umgehung von Embargo-Bestimmungen bzw. von Ausfuhrverboten der Republik Österreich auszuarbeiten“.

Da die Österreicher „wegen der hochkarätigen Embargoproblematik“ (Weber) nicht als Auftragnehmer der DDR aktenkundig werden wollen, wird „zur Embargoabsicherung“ die Firma Cavendia in Vaduz zwischengeschaltet — Webers Briefkastenfirma in Liechtenstein. Den Österreichern ist an absoluter Geheimhaltung genauso viel gelegen wie den Ostdeutschen. Am 26. April 1988 schließen Hirtenberger und Cavendia ein förmliches Geheimhaltungsabkommen unter der Vertragsnummer 113/2. Weber in einer Meldung — natürlich „streng geheim!“ — an Schalck: „Als Partner sind wir uns bewußt, daß wir uns voll im Embargo mit Nato-Wissenschafts- Know-how befinden. Die vorliegenden Angebote wurden von Leuten erarbeitet, die von der Nato verpflichtet und Geheimnisträger der Nato sind.“

Hirtenberger stellt zwar selbst Munition, aber keine Produktionsanlagen her. Die müssen die neutralen Österreicher in Nato-Landen einkaufen. Dazu stellt Hirtenberger den DDR-Auftraggebern im April 1988 „zwei mögliche Kooperationspartner“ vor: Die Mondocom AG und die BOWAS Induplan in Salzburg. Die Buchstaben BO markieren die damalige Verbindung zur westdeutschen Krupp-Erbengruppe Bohlen und Halbach, WAS steht für die Essener WASAG-Chemie AG, einen führenden Sprengstoffhersteller der BRD, an dem die Bohlen-Industrie GmbH über 50 Prozent hält. Die Konkurrenz von Mondocom verfügt über einen versierten Pulver- und Raketentreibstoffexperten. „Er war an Entwicklungen von Panzerabwehrlenkraketen und der Flugabwehrrakete ,Roland‘ gemeinsam mit Messerschmidt-Bölkow-Blohm beteiligt“, meldet Weber entzückt nach Hause.

Im Juni 1988 legt Hirtenberger tatsächlich ein erstes umfangreiches Angebot vor. Geplante Kapazität: 800 Tonnen Schützenwaffenmunitionspulver und 100 Tonnen Festtreibstoffe für Raketenantriebe pro Jahr. Von welchen Firmen Hirtenberger die Komponenten kaufen will, geht aus den der taz vorliegenden Unterlagen nicht hervor. In einem Reisebericht für Schalck schreibt Weber aber im Herbst: „Der Generaldirektor der BOWAS hat am 29. 9. 88 [gegenüber Hirtenberger, d. Red.] seine Generalzusage gegeben, als Sublieferant im Technologietransfer voll mit in das Geschäft einzusteigen. Als Sublieferant der BOWAS gegenüber Hirtenberger tritt nicht die BOWAS- Muttergesellschaft, sondern eine Tochtergesellschaft im Ausland auf. [...] Die Muttergesellschaft und alle Mitarbeiter sind Nato-verpflichtet, und man muß einen solchen Weg gehen. Technologie-Know-How ist volles Nato-Embargo.“ Zu einer angekündigten Maschinen- und Lieferantenliste vermerkt Weber: „BOWAS machte darauf aufmerksam, mit dieser Liste sehr vorsichtig umzugehen.“ Gegenüber der taz erklärte ein BOWAS-Manager diese Woche, die Firma habe nie in die DDR exportiert. Dazu, ob etwa mit Hirtenberger verhandelt wurde, wollte der Mann „im Moment nichts sagen“.

Hirtenberger muß jedenfalls bei Nato-Lieferanten fündig geworden sein. Denn am 21. Dezember 1988, bei der „dringenden“ Zusammenkunft im Badener Parkhotel, offerierten zwei Manager der Firma den eingeflogenen DDR-Unterhändlern ein überarbeitetes, vollständig dokumentiertes Angebot: 117.897.000 Westmark sollte die komplette Fabrik kosten — „verpackt, verzollt, ab Werk“. Laut Protokoll bei dem Meeting im Wiener Wald mit am Tisch: Der Vertreter eines Grazer Ingenieurbüros — und zwei Manager der BOWAS Induplan.

Letztlich waren alle Mühen der KoKo-Mannen und ihrer westlichen Helfershelfer vergebens: Das „Vorhaben T“ wurde nie realisiert. Obwohl in Gnaschwitz bis dahin schon einige Millionen verbaut worden waren, wie der dortige Betriebsdirektor der taz bestätigte, wurde das Projekt im Februar des Wendejahres 1989 urplötzlich abgeblasen. Vielleicht waren Schalck wieder mal die Devisen knapp geworden. An fehlenden willigen West-Lieferanten kann es nicht gelegen haben.