Engholms Befreiungsschlag hilft SPD aus der Verlegenheit

■ Noch am Sonntag hatte er bei den Kollegen in Bonn auf schleunige Beendigung der "Kunstdebatte" um den Herausforderer Helmut Kohls gedrängt. Am Montag dann überraschte Engholm...

Engholms Befreiungsschlag hilft SPD aus der Verlegenheit Noch am Sonntag hatte er bei den Kollegen in Bonn auf schleunige Beendigung der „Kunstdebatte“ um den Herausforderer Helmut Kohls gedrängt. Am Montag dann überraschte Engholm die Präsidiumsgenossen mit seiner Ankündigung, selbst ins Rennen zu gehen — um „dieser Schwachsinnsdiskussion“ ein Ende zu bereiten.

Ich bin sehr froh über Engholms Entscheidung. Dies ist die Entscheidung, die ich wollte. Ich werde alles tun, um ihn zu unterstützen.“ Bei einem Journalistenfrühstück am Morgen nach der Bereitschaftserklärung des Kieler Ministerpräsidenten und SPD-Bundesvorsitzenden, 1994 „ins Rennen“ gegen Helmut Kohl zu gehen, bemüht sich Hans-Ulrich Klose, den Eindruck von Eindeutigkeit und Zufriedenheit zu vermitteln. Von ihm, der die Diskussion um die Kanzlerkandidatur seiner Partei vor Wochen ausgelöst und seitdem immer wieder angefacht hat, werde man „zu diesem Thema keinen weiteren Kommentar mehr hören“.

Wenig später läßt der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion dann doch erkennen, daß er mit einer Zusage Engholms — zumindest zu diesem Zeitpunkt — nicht gerechnet hat. „Halbe-Halbe“, antwortet er auf die Frage, ob er überrascht gewesen sei. Das ist wahrscheinlich noch vornehm untertrieben. Denn bei den meisten, wenn nicht allen Mitgliedern löste Engholm mit seiner Ankündigung große Überraschung aus. Das Präsidium hatte sich am Montag ja eigentlich nur versammelt, um die wochenlangen, als „quälend“ und „schwachsinnig“ (Engholm) empfundenen Diskussionen um die Kanzlerkandidatur durch die Vereinbarung eines Auswahlverfahrens zu beenden. Kaum jemand hatte damit gerechnet, daß sich Engholm — entgegegen seiner bisherigen Haltung — noch vor der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 5. April festlegen würde.

Obwohl das Präsidium die Bereitschaftserklärung Engholms „einhellig“ und „einstimmig“ begrüßte, ist die Überraschung unter den Führungsleuten der SPD durchaus unterschiedlicher Natur. Positiv war sie für jene, die — ohne in der Kandidatenfrage bereits eindeutig festgelegt zu sein — vordringlich ein Ende der Personaldebatte und die Konzentration auf Sachthemen wünschten. Zufriedenheit herrschte auch bei den Befürwortern einer Kanzlerkandidatur Engholms — wobei sich darin die Sorge mischt, der Kieler werde die noch recht lange Phase bis zur offiziellen Nominierung durch einen Parteitag im Spätherbst 1993 nicht durchhalten.

Ein solches Szenario bleibt anderseits die letzte Hoffnung derjenigen aus der sozialdemokratischen Führungsriege, die ihre eigenen Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur 1994 mit der Entscheidung Engholms nun zunächst einmal zurückstellen müssen, sowie ihrer jeweiligen UnterstützerInnen in der Partei. Ihnen beschert Engholm eine unliebsame Überraschung. Gar manche aus diesem Lager hatten den Kieler Ministerpräsidenten in den letzten Wochen zu einer frühzeitigen Entscheidung vor der Landtagswahl in seinem Bundesland zu drängen versucht. Das Kalkül: Der Parteivorsitzende werde unter diesem Druck die Nerven verlieren und nein sagen. Als diese Rechnung nicht aufging, setzten die GegnerInnen einer Kanzlerbewerbung Engholms darauf, daß dieser sich mit einer weiteren Fortdauer der Hängepartie bis nach dem Urnengang im April immer stärker als Zauderer profilieren und für eine Kandidatur völlig unmöglich machen würde.

Lafontaine ins Abseits manövriert

Die — unausgegorenen — Überlegungen Oskar Lafontaines über „Sicherheitsgarantien“ der Nato für die Staaten Osteuropas und die erstaunliche Unterstützung, die er dafür von bestimmten GenossInnen erhielt, waren zugleich ein Versuch, den Saarländer wieder stärker ins Kanzlerkandidaten-Spiel zu bringen. Mit seiner Bereitschaftserklärung vom Montag hat Engholm diese Strategien zunächst einmal durchkreuzt. Bleibt er dabei, dürfte Oskar Lafontaine für 1994 keine Chance mehr haben, selbst wenn er bis zu den Vorentscheidungen der Partei-Führungsgremien im Frühjahr 1993 doch noch seinen Hut in den Ring werfen sollte.

Dasselbe gilt für Klose. Ob seine Überraschung über Engholms Flucht nach vorn positiv oder negativ war, ließ sich der Fraktionsvorsitzende gestern morgen nicht anmerken. Er nutzte die Gelegenheit jedoch, um sich erneut als die — zumindest im Vergleich zu Engholm — profiliertere Führungsfigur in Sachfragen zu präsentieren. Zugleich unterstrich er den Anspruch der von ihm geführten Bundestagsfraktion auf einen gewichtigen Anteil an der Meinungs- und Positionsbildung in der Gesamtpartei. Die SPD-Ministerpräsidentenriege sei daran lediglich „im Rahmen des Bundesrates beteiligt“.

Dabei benannte Klose auch die Themenfelder, in denen die SPD sich künftig verstärkt um klare gemeinsame Positionen bemühen und wieder und deutlicher als Alternative zur Bundesregierung profilieren müsse: Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaftsstandort Deutschland, Ökologie- und Energiepolitik, Kriminalität und Sicherheit der BürgerInnen. Insbesondere in der Außenpolitik räumte er einen „erheblichen Präzisionbedarf“ ein. Das „Koordinatensystem“ für die diesbezüglichen Beschlüsse von Partei und Regierung habe sich „drastisch verändert“. Es bedürfe einer „Neuverständigung über die Grundsätze der eigenen Außenpolitik und der Probleme und Faktoren, die sie beeinflussen“. Klose machte deutlich, daß die Fraktion bei diesem Thema „nicht“ auf die Ergebnisse der von der Partei eingesetzte Programmkommission unter Johannes Rau „warten“ werde, für deren Erarbeitung „ein Zeitrahmen von zwei Jahren“ angesetzt ist. Welche der gültigen Beschlüsse der Partei zu außenpolitischen Fragen — etwa zur Überwindung beider Militärblöcke oder zur KSZE, zur Rolle der Bundeswehr oder zu einer westeuropäischen Sicherheitspolitik — er denn für revisionbedürftig halte, erläuterte Klose nicht. Und um eine Reaktion zum jüngsten Vorstoß Lafontaines gebeten, verhedderte sich Klose in einige Widersprüche. Der Vorschlag des Saarländers für „Sicherheitsgarantien“ der Nato für die osteuropäishen Staaten und gar Einsätze der Bundeswehr auf deren Territorien knüpfe an an frühere Überlegungen Lafontaines für bilaterale deutsch-französische, deutsch-polnische oder „vielleicht auch deutsch- russische“ Verbände. „Eine Vernetzung, als deren Ergebnis schließlich niemand gegen niemanden mehr krieg führt.“ Eine Interpretation, die die Äußerungen Lafontaines auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Engholm letzte Woche allerdings kaum zulassen.

Opposition: Flucht nach vorn

Auch in der nicht nur zwischen Regierung und Opposition, sondern auch innerhalb der SPD nicht unumstrittenen Frage einer Erhöhung der Mehrwertsteuer reklamierte Klose Meinungsführerschaft vor allem auch gegenüber andersdenkenden Landespolitikern der Partei. Zumindest „zum jetzigen Zeitpunkt“ werde es eine Zustimmung der SPD „nicht geben“. Darin sei er sich einig mit Lafontaine. Und auf die Frage nach der Haltung der brandenburgischen Landesregierung, deren Finanzminister sich erneut für die Erhöhung ausgesprochen hatte, erklärte Klose, der Ministerpräsident Stolpe sei in diese Position der Gesamtpartei „eingebunden“. Zum „sogenannten Fall“ Stolpe setzte Klose ebenfalls Akzente, die sich von Äußerungen anderer führender SPD-Politiker, etwa Johannes Rau, unterscheiden. Der „Fall Stolpe“, den es „für die SPD nicht gibt“, dürfe nicht zum Vorwand für die „Entschuldigung der Blockparteien“ mißbraucht werden. Stolpes Verhalten sei nicht mit dem informeller Stasi-MitarbeiterInnen zu vergleichen.

Bei den Regierungsparteien in Bonn wurde die Entscheidung Engholms ganz offensichtlich mit Erleichterung aufgenommen. Dort war man davon ausgegangen, daß Lafontaine oder Klose härtere Nüsse für Kanzler Kohl geworden wären. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble, meinte, Engholm sei ein „doppelter Verlegenheitskandidat“. „Der Copilot in Saarbrücken“, wie Schäuble Oskar Lafontaine nannte, habe „sicher immer noch Ambitionen“. CDU-Generalsekretär Volker Rühe meinte, mit seiner Ankündigung der Kanzlerkandidatur trete der SPD-Vorsitzende die Flucht nach vorne an. Er habe „eindeutig nicht aus eigener Überzeugung gehandelt, sondern vielmehr dem massiven Druck aus den eigenen Reihen nachgegeben“.

Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff warf Engholm vor, „zumindest in der Wahl des Zeitpunkts“ dem Druck von Klose und Lafontaine nachgegeben zu haben. Sie hätten ihn „so lange in die Zange genommen, bis er gar nicht anders konnte als jetzt ja zu sagen. Der politische Tiefstand der SPD wird sich mit dieser Ankündigung nicht bessern.“ Andreas Zumach, Bonn