Frust mit der linken Doppelmoral

■ Titanic Reisen in Kreuzberg ist das einzige Reisebüro-Kollektiv in Berlin/ Die traurige Erfahrung der MitarbeiterInnen: Linke Reisende sind keineswegs bessere oder bewußtere Touristen

Kreuzberg. Und unbeirrt steuert die Titanic ihrem eigenen Untergang zu? Nicht doch, Titanic Reisen in der Oppelner Straße 7, das einzige selbstverwaltete Reisebüro-Kollektiv in Berlin, hat keine wirtschaftlichen Stürme zu erwarten. 1988 von Mitgliedern eines Taxikollektivs gegründet, segelt Titanic mit vier KollektivmitarbeiterInnen, zwei Halbtagsangestellten, zwei Auszubildenden sowie Aushilfen nach einigen Sturm- und Drangperioden nunmehr ruhig auf Erfolgskurs dahin.

Ruhig? Rainer Klee, Sandra Heck, Ilona Paschke und »Vernacia« Walter Naber, die zusammen das Kollektiv der Anteilseigner an der Offenen Handelsgesellschaft Titanic Reisen bilden, berichten von einem »Höllenstreß seit Monaten«. Vieles habe sich »schneller ausgeweitet als gedacht«. Die Stamm- und Laufkundschaft in der linken Szene und bei anderen Reisebüros, die Titanic mit Flugtickets beliefert, sorgt inzwischen mit rund 7.000 Buchungen jährlich für einen guten Absatz. 1989 waren es zwei, 1990 vier und 1991 acht Millionen Mark Umsatz, von dem sich die KollektivmitarbeiterInnen einen Stundenlohn von 17 Mark ausbezahlen. Aber von ihrem Ziel, der 30-Stunden-Woche, seien sie weiter entfernt denn je, 40 bis 60 Stunden inklusive wöchentlichem Kollektivplenum seien die Regel. »Lieber weniger Geld und dafür weniger arbeiten«, wünscht sich Ilona Paschke. Das jedoch scheitert unter anderem daran, daß sie seit einem Jahr vergeblich eine Person mit Reisebüroausbildung und Kollektivgelüsten suchen.

Die gelernte Linguistin Ilona Paschke und der Betriebswirt und Ex-Taxifahrer Rainer Klee stammen aus dem Umfeld der Soldaritätsgruppen mit Lateinamerika und versuchen von daher »seit Jahren, mehr die politischen und beruflichen Reisen als den normalen Tourismus zu fördern«. Wenn irgendwelche Delegationen nach El Salvador oder von Nicaragua hierher fliegen, dann steckt garantiert Titanic dahinter; auch die sandinistische Ex-Comandante Dora Maria Tellez, die vor kurzem auf einer Veranstaltung in Berlin auftrat, kam mit einem Titanic-Ticket. Aber selbst bei Privatreisen hat Rainer Klee den Anspruch, den Leuten beizubringen, »daß sie lieber dort ihren Urlaub machen sollen, wo sie nichts mehr kaputt machen — auf den Kanarischen Inseln, in den USA, Kanada oder Australien«. Trotzdem, so sagt er resigniert, »glaube ich nicht, daß wir das Reiseverhalten im geringsten beeinflussen.« Im Gegenteil: Manchmal muß sich das Titanic-Kollektiv Kritik anhören, daß es den umweltverdreckenden Luftverkehr oder die Ausbeutung der Dritten Welt oder einfach falsche Bedürfnisse fördere, und anschließend buchen dieselben Kritiker ihre Karibik- Reise bei Neckermann, weil es dort ein paar Mark billiger ist. Der Kampf mit der linken Doppelmoral frustet alltäglich. »Neulich«, erzählt Rainer Klee, »legt mir ein Empörter einen Artikel über Prostitution und Frauenhandel in der Dominikanischen Republik hin, weil wir dafür mit einem Billigpreis geworben hatten. Und am nächsten Tag erscheint sein Mitbewohner und bucht just Dominikanische Republik.«

Die Billigpreise — das ist ein Kapitel für sich. Die Konkurrenz auf dem Reisemarkt ist knallhart. Vor allem bei den sogenannten Graumarkttickets. Sandra Heck, die einzige bei Titanic, die eine Lehre als Reiseverkehrskauffrau abgeschlossen hat, erklärt den Unterschied zu den Normaltickets an einem Beispiel: Ein terminungebundener Lufthansa-Flugschein nach New York kostet derzeit überall 1.369 Mark, ob im Reisebüro oder am Flugschalter, wobei dann entweder der Reiseladen oder Lufthansa selbst die darin schon enthaltene Provision einbehält. Bei den Graumarkttickets aber bleibt den Reisebüros selbst überlassen, wieviel sie draufschlagen, so daß die Preise der zehn verschiedenen Fluggesellschaften, die ebenfalls Flüge nach New York anbieten, ab 820 Mark aufwärts überall verschieden sind. Je mehr Fluggesellschaften ein Reisebüro also anbieten kann, desto billiger für den Kunden. Aber desto heftiger auch der Konzentrationsprozeß in der Branche. Auch Artu, das als Studentenreisebüro anfing, gehört jetzt zur Neckermann- Gruppe. Zwar gebe es 600 bis 700 Büros in West-Berlin und seit letztem Jahr fast ebenso viele in Ost-Berlin, die zum Teil sogar »in Currywurstbuden und Sonnenstudios« als Nebenerwerb mitliefen, berichtet Rainer Klee, aber viele kleine Reiseanbieter müßten wegen zu hoher Preise nach kurzer Zeit wieder dichtmachen. Oder aber sie greifen zu nicht ganz sauberen Tricks: zum Beispiel Werbung mit Billigangeboten mit fast unerfüllbaren Terminkonditionen, in der Hoffnung darauf, daß der Kunde dann ein teuereres Ticket kauft. »Es gibt viele schwarze Schafe in der Branche«, weiß er. Der Geschäftsführer ihres ehemals größten Konkurrenten verschwand gar nach dem Weihnachtsgeschäft mit knapp 200.000 Mark Kundengeldern.

Das Kollektiv auf der Titanic ist dennoch guter Hoffnung, nicht unterzugehen, auch wenn es nicht wie andere seine Kunden bescheißt. Auch streicht dort kein Chef den Profit ein: Was an Überschüssen übrigbleibt, wird an Projekte der Solidaritätsszene verteilt. »Allerdings«, bedauert Rainer Klee, »war das bisher nicht eben viel. Das liegt einfach am Markt.« Ute Scheub